Im Zeichen der Angst Roman
einzigen Hotel der Stadt gebucht, und Josey und ich würden am nächsten Tag losfahren.
Josey war ganz aufgeregt. Während wir am frühen Nachmittag ihren Rucksack und meinen Trolley packten, erklärte ich ihr, dass wir zu einer Beerdigung fuhren. Ich sagte ihr nicht, dass es ihre Großmutter war. Sie hatte sie nie kennen gelernt. Sie fragte mich, was eine Beerdigung ist und ob sie Angst haben müsste.
Ich erklärte es ihr, während sie auf dem Bett saß und mit den Beinen baumelte. Als ich fertig war, sprang sie herunter und rannte wortlos aus dem Zimmer.
Sie kam mit ihrer grauen Schmusekatze Sandy zurück und stopfte sie oben in den Rucksack. Darunter lagen ihre Jeans, zwei Sweatshirts, Unterwäsche und Socken und Schuhe zum Wechseln. Dann rannte sie noch einmal ins Kinderzimmer und kam mit Kais Game Boy wieder. Sie steckte ihn in eine Seitentasche.
Sie setzte sich zurück auf die Bettkante und hob den Kopf. Ihre grünen Augen sahen mir ins Gesicht.
»Wird es wie bei meinem Papa?«, fragte sie.
Mir schossen die Tränen in die Augen, und ich drehte mich um. Sie zerrte an meinem Arm.
»Mama, wird es wie bei meinem Papa?«
Verstohlen wischte ich mir die Tränen ab und hockte mich vor sie. Sie war dreieinhalb Jahre alt gewesen. Sie hat in den vergangenen zweieinhalb Jahren nie mit mir darüber gesprochen, und so hatte ich angenommen, sie hätte es vergessen oder nicht verstanden. Doch ich hatte mich geirrt.
»Was meinst du?«, fragte ich hilflos. Ich bin selten hilflos, doch diese Frage hebelte mich aus, und so tat ich das, was Gesprächsprofis in solchen Situationen empfehlen, ich gab die Frage an meine Tochter zurück.
»Alle haben geweint. Es war sehr traurig. Und es war sehr dunkel und kalt. Und eine Frau hat mit dir geschimpft. Ganz laut. Und nur dort, wo die Lichter waren und die Musik, da war es schön.«
Kai war im Februar verunglückt. Es hatte an dem Tag geschneit, die Straßen waren vereist und glatt gewesen. Er war in Berlin gewesen, und auf der Rückfahrt hatte es an einer Baustelle diesen Stau gegeben. Fünf Tage später haben wir ihn beerdigt. An einem düsteren, grauen Februartag, nachmittags um zwei Uhr auf dem Solthavener Friedhof. Seine Eltern, Josephines Großeltern väterlicherseits, hatten es so gewollt. Seither hatte ich sie nicht mehr gesehen.
»Meinst du, wir können zwei von deinen Steinen von der
Ostsee mitnehmen?«, fragte ich sie. »Wir könnten dort auch das Grab von deinem Papa besuchen, und dann schenken wir ihm die Steine zur Erinnerung.«
Josey lächelte glücklich, und dann rannte sie zum Regal, in dem das Glas mit ihrer Steinsammlung stand, kramte zwei besonders hübsche hervor und legte sie mir in die Hand.
Meine Familie hat keine jüdischen Wurzeln, doch ich liebe diesen Brauch, einen Stein auf einen Grabstein zu legen als Gruß der Lebenden an die, die vor ihnen gegangen sind.
Gegen halb zwei hatten wir unsere Sachen gepackt, und ich ging zum Briefkasten. Seitdem auch die Deutsche Post sparte, kam der Briefträger nie vor eins zu uns, und es war ständig ein anderer.
Ich war nervös, und je weiter ich die Treppe hinunterging, desto unruhiger wurde ich. Ich wartete auf das Foto meiner Mutter, das Groß mir versprochen hatte, und ich wartete täglich auf einen neuen Drohbrief.
Denn natürlich schloss niemand tagsüber die Tür ab. Jeder Bewohner hatte es mir versprochen. Doch niemand dachte daran. So war das eben im richtigen Leben. Die Leute hatten alle ihre eigenen Probleme, und sie hatten es immer eilig. Für jeden Fremden war es ein Leichtes zu klingeln und darum zu bitten, die Tür zu öffnen, damit er Werbung oder Ähnliches einwerfen konnte. Niemand kümmerte sich darum. Man öffnete die Tür und ging danach schnellstmöglich seinem Tagesgeschäft nach.
Ich leerte den Kasten. Obenauf lag ein Brief vom Landeskriminalamt. Ich schlitzte den Umschlag mit dem Daumen auf und sah hinein. Groß hatte sein Wort gehalten. Der Umschlag enthielt ein Farbfoto meiner Mutter, das sie vermutlich in der Pathologie aufgenommen hatten. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als ob sie schliefe.
Hinter diesem Umschlag knüllten sich Werbeprospekte vom Supermarkt um die Ecke, vom Baumarkt, von irgendeiner Elektrokette und von einem Pizzadienst. Unter den Prospekten
leuchtete mir ein weißer DIN-A4-Umschlag entgegen, mit meinem Namen und meiner Adresse, den ein Laserprinter ausgedruckt hatte. Kein Absender. Keine Briefmarke. Kein Kurierdienst. Diesmal nicht.
Das Herz
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