Im Zeichen der Angst Roman
anderes übrig, als den Schuhkarton zu holen und ihn in meinen Kleiderschrank zu den anderen zu stellen. Dort, so wusste ich, würde Kai niemals nachschauen, und als er dann ausgezogen war, legte ich die Glock in den Safe. Ich wollte nicht, dass Josey sie zufällig fand.
Selbstverständlich besaß ich keinen Waffenschein, und als ehemaliger Häftling würde ich auch nie einen erhalten. Aber ich konnte seit meinem Studium mit Waffen umgehen. Jedes Erstsemester war in der DDR zu meiner Zeit für sechs Wochen in ein so genanntes vormilitärisches Lager gegangen. Alle Mädchen und alle Jungen, die nicht bei der Deutschen Volksarmee gewesen waren. Wir hatten dort unter militärischer Anleitung Erste-Hilfe-Kurse absolviert, wir hatten gelernt, wie man sich bei einem Atomschlag verhält, und wir hatten gelernt, mit Waffen umzugehen. Unser Ausbilder hatte mich ein Naturtalent genannt, auch wenn ich beim Schießen immer das falsche Auge schloss. Ich traf dennoch punktgenau ins Schwarze. Am allerletzten Tag hatte er uns den Rat fürs Leben gegeben: Sollten
wir jemals in eine gefährliche Situation geraten, sollten wir vergessen, was er uns gelehrt hatte. Wir sollten uns nicht mit dem exakten Zielen aufhalten. Wir sollten auf die Körpermitte zielen und abdrücken, bis das Magazin leer war. Alles andere wäre etwas für Profis, und das wären wir nun mal nicht und wir würden es auch nie in unserem Leben werden.
Die Glock lag noch immer in dem Schuhkarton, in dem ich sie bekommen hatte. Ich wickelte sie aus dem ölgetränkten Lappen, entsicherte sie, klickte die Trommel heraus, ließ sie über meine Hand gleiten und überprüfte, ob die Kammern geladen waren. In jeder steckte eine Patrone.
Ich hatte mir an dem Tag, an dem ich Jörn Bruchsahl fast getötet hatte, geschworen, nie wieder eine Waffe zu benutzen. Doch Umstände ändern sich, und dann sollte man auch seine Einstellung ändern. Hier ging es nicht mehr nur um mich. Hier ging es um Josey.
Ich holte meine schwarze Handtasche und steckte die Glock hinein.
Jetzt würde ich das tun, was ich mir für den Nachmittag vorgenommen hatte: den Blumenstrauß für die Beerdigung meiner Mutter abholen.
Ich rief Josey im Kinderzimmer zu, sie möge sich anziehen, wir müssten noch mal los.
Einen Augenblick später klingelte das Telefon aus der Küche. Ich rannte hinüber und hielt es ans Ohr.
»Groß hier. Wir sind in ein paar Minuten bei Ihnen.«
»Ich wollte gerade weg«, sagte ich überrascht.
»Bleiben Sie zu Hause«, sagt er.
Es war keine Bitte, und er erwartete auch keine Antwort. Er hängte mich ab.
Ich legte das Telefon zurück auf den Küchentisch. Ich sah nach Josey, die sich in ihrem Zimmer gerade mit dem Reißverschluss ihres Daunenparkas mühte. Ich winkte ihr zu und sagte, wir bekämen noch kurz Besuch und sie könne sich Zeit lassen.
Dann ging ich ans Wohnzimmerfenster. Ich spähte hinter den Vorhängen nach unten. Es regnete wieder in Strömen. Fast hätte ich erwartet, unten die Frau mit dem Range Rover zu sehen. Doch da parkte kein Rover. Ich sah den Audi auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorfahren. Groß sprang auf der Fahrerseite aus dem Auto und öffnete einen Automatikschirm. Mankiewisc stieg auf der Fahrbahnseite aus und hastete über die Straße.
Ich ging zur Wohnungstür und drückte den Türöffner.
Ich hörte, wie unten die Haustür ins Schloss fiel und die beiden die Treppe heraufkamen.
Ich erwartete sie in der Tür.
Groß sah auf mein pinkfarbenes Micky-Maus-Sweatshirt. Er grinste und schob mich zur Seite. Das kannte ich schon.
»Wir haben eventuell eine Spur«, sagte er und ging in die Küche. Mankiewisc folgte ihm, ein Taschentuch in der Hand, mit dem er sich über den zurückweichenden Haaransatz fuhr und die Stirn trocknete. Ob sie vom Regen oder von Schweiß feucht war, war nicht auszumachen. Er keuchte. Ich schloss die Tür und lehnte einen Moment den Kopf an das kühle Holz. Ich war erschöpft, ausgelaugt und müde.
Meine Beine entwickelten ein Eigenleben, und ich ging den beiden Männern schließlich hinterher.
»Setzen Sie sich«, sagte Mankiewisc. Er saß längst. Das Taschentuch war verschwunden, seine schwarze Daunenjacke hing über der Stuhllehne.
Ich fiel auf den Stuhl am Fenster. Mankiewisc saß mir gegenüber und sah mich an. Groß saß neben ihm. Auch seine schwarze Jacke hing über der Lehne. Sie hatten ihre Jacken zuvor nie abgelegt, und so ging ich davon aus, dass das Gespräch dauern konnte.
»Geht es
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