Im Zeichen der Angst Roman
aus den Angeln reißen. Erschrocken zog ich Josey an mich.
Ein Angestellter mit dem zerknautschten Gesicht eines Bullterriers und den erlesenen Manieren eines Butlers entschuldigte sich, weil die Tür seit drei Tagen klemmte.
Er führte uns durch die Halle zu einer Treppe, die in die erste Etage führte. Am Ende des weitläufigen Flurs lag Davids Arbeitszimmer.
Mein Herz schlug eine Spur zu schnell, als der Butler die Tür öffnete.
Die Einrichtung verriet hanseatisches Understatement. Kein Prunk und Protz, aber dennoch unverkennbar teuer und erlesen. Zweifarbiges Kassettenparkett, auf dem ein echter Gobelin mit einer Jagdszene lag, ein sandsteinfarbener Marmorkamin mit einer Galerie von Familienbildern, schwere Seidenvorhänge, englische Möbel und englische Messinglampen, deren
Schein den Raum an diesem späten Nachmittag in ein warmes, gelbes Licht tauchte.
In einem dunkelblauen Kaschmirpullover, aus dem die Ecken eines weißen Hemdes ragten, erhob David sich hinter einem schweren Mahagonischreibtisch. Auf dem Schreibtisch standen zwei vergoldete Bilderrahmen, ein Flachbildschirm und eine Tastatur.
Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Ruckartig drehte ich den Kopf. In einem Sessel am Kamin saß Katharina in Jeans, nabelfreiem T-Shirt und Sweatshirt-Jacke, deren Reißverschluss sie nervös ein paar Zentimeter hoch - und dann wieder hinunter-, hoch - und hinunterzog. Ihr Gesicht war schmaler und kantiger als das Kindergesicht, das ich in Erinnerung hatte. Doch noch immer leuchteten die graublauen Augen in dem blassen Gesicht, das von schokoladenbraunem Haar umrahmt wurde.
Oh Gott, dachte ich, hilf mir bitte! Ich knipste mein professionelles Lächeln an. In mir brannte eine Sehnsucht, mit der ich das Haus hätte heizen können.
Johanna wäre jetzt so alt wie sie. Sie könnten hier gemeinsam sitzen, sich über Jungs unterhalten, über ihre Lehrer meckern und über die neuesten CDs reden, wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hätte.
»Hallo, ich bin Josephine.« Josey ließ meine Hand los und ging auf Katharina zu. Sie strahlte über das ganze Kindergesicht, und immer wenn sie strahlte, war es so, als fielen diese Strahlen direkt in mein Herz, wärmten es und rissen jeden Kummer mit sich.
Katharina lächelte zurück, doch es war etwas Gequältes in diesem Lächeln, und dann füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie sprang auf, rannte auf Josey zu und riss sie in die Arme.
Katharina war schlank und groß, viel größer, als ihre Mutter je war.
Ich stand wie ein Zementblock im Raum, mein Blick huschte
von den beiden Mädchen zu David, der wie ich erstarrt war. Ich war unendlich traurig, und ich war unendlich glücklich, diese beiden Mädchen hier zu sehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, Katharina hier anzutreffen. In keinem Moment der Fahrt hierher hatte ich daran gedacht, dass ich nicht nur David Plotzer, sondern vielleicht auch seiner Tochter begegnen könnte.
Nach Johannas Tod war Katharina in psychiatrischer Behandlung gewesen. Weder David noch Claudia noch ich oder Kai hatten ihr jemals gesagt, dass sie entführt werden sollte. Doch Kinder haben einen sechsten Sinn, oder sie sind nur schlauer, als wir Erwachsenen uns das immer zurechtlegen. Kai und ich waren ein paar Tage nach Johannas Beerdigung an einem Sonntagmittag bei David und Claudia zum Essen eingeladen. Es quälte uns hinzugehen und Katharina zu sehen. Doch dann gingen wir. Es war ein bleischweres Essen, obwohl wir uns alle bemühten, unbeschwert und höflich zu sein. Doch wie soll man nach dem Tod eines Kindes unbeschwert sein? Ich glaube, Kai und ich trugen ihren Tod wie ein unsichtbares Banner vor uns her.
Katharina saß zwischen David und Claudia und aß zum Nachtisch ein Eis mit heißen Himbeeren. Eine Himbeere fiel auf ihre Bluse, und Claudia schimpfte mit ihr, sie sollte besser Acht geben.
Da sagte sie aus heiterem Himmel: »Ich wollte, ich wäre tot.«
Niemand hatte damit gerechnet. Niemand war darauf vorbereitet - und so reagierten wir alle völlig überfordert. Jeder redete im ersten Schreck auf sie ein. Jeder von uns vier Erwachsenen, bis sie sich die Finger in die Ohren steckte und stets aufs Neue wiederholte: »Ich wollte, ich wäre tot. Ich sollte tot sein, nicht Johanna.«
Dann weinte sie, und niemand konnte sie beruhigen.
David nahm sie schließlich auf den Schoß wie eine Dreijährige und flüsterte immer nur: »Du bist nicht schuld an ihrem
Tod, Schatz. Du bist nicht schuld.« Ich sagte etwas
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