Im Zeichen der Angst Roman
Ähnliches und wie glücklich wir alle seien, dass sie hier bei uns sei.
Claudia goss sich schließlich einen doppelten Brandy ein, und dann noch einen. Das Kind umklammerte den Hals seines Vaters, hatte den Kopf an seine Wange gelegt und sah schluchzend zu, wie sich seine Mutter betrank. Kai und ich wollten gehen, doch David bestand darauf, dass wir blieben. Ich bat Claudia beim dritten Brandy leise, es zu lassen, aber da war die Kombination aus Tabletten und Alkohol schon zu viel. Sie lallte, ich solle sie in Ruhe lassen. Wir alle sollten sie in Ruhe lassen. Sie habe von allem genug. Dann fiel ihr Kopf auf den Tisch, und ihre Tochter schluchzte noch einmal auf.
David rief Hazel an, er möge Claudia holen und ins Bett bringen. Einen Lidschlag später stand Hazel im Raum, als hätte er hinter der Tür auf seinen Auftritt gewartet, und wir alle sahen, dass es nicht das erste Mal war, dass er Claudia abtransportierte. Routiniert griff er unter ihre Achselhöhlen, zog sie hoch und umfasste ihre Taille. Sie begann zu lamentieren, er solle sie loslassen. Dann hieb sie auf seinen Oberkörper ein. Unbeeindruckt trug er sie mehr, als dass er sie führte, aus dem Esszimmer.
Sechs Monate später brachte sie sich um mit einem Cocktail aus Schmerz - und Schlaftabletten und einer Flasche Cognac. Sie tat es nicht zu Hause. Sie war nach einem Streit in ein Hotel in die Hamburger Innenstadt gefahren. Es war nicht das erste Mal. Am nächsten Morgen fand sie das Zimmermädchen tot in ihrem Bett.
Katharina war völlig apathisch, und nichts konnte diese Apathie lösen. David nahm sie aus der Schule. Sechs Monate lang war sie in einer psychiatrischen Privatklinik. Danach kam sie auf ein Schweizer Internat und musste die Schule noch einmal mit der ersten Klasse beginnen.
Jetzt kniete sie vor meiner Tochter und drückte ihr tränenüberströmtes Gesicht an Joseys Wange.
»Du musst nicht weinen«, sagte Josey und reichte ihr ein Taschentuch mit Bibi Blocksberg.
Katharina nahm es und lächelte.
»Du magst Bibi Blocksberg?«
Josey nickte. Ich lauschte Katharinas Stimme und fragte mich, ob sich Johannas Stimme auch so hell und traurig anhören würde.
»Sie war meine Lieblingshexe«, sagte Katharina.
Josey strahlte über das ganze Gesichtchen: »Sie ist sehr schlau und weiß immer einen Ausweg.«
»Du darfst nicht böse sein«, sagte Katharina und putzte sich die Nase. »Du siehst nur jemandem sehr ähnlich, den ich mal kannte und sehr gern mochte.«
»Ja«, sagte Josey. »Meine Musiklehrerin, Frau Flachsner, hat das auch schon gesagt. Ich sehe aus wie meine tote Schwester. Und ich bin auch so gut im Singen. Und du warst bestimmt die Freundin, und da hast du viel Glück gehabt.«
Ich dachte, mir blieb das Herz stehen, und ich sah wohl auch so aus, denn Josey sah mich an und sagte mit einer Stimme, die den Klang Erwachsener nachahmte und sowohl beruhigend als auch streng sein sollte: »Das hat Frau Flachsner gesagt, Mama.«
Weshalb denken wir immer, wir wüssten alles über unsere Kinder, und sie würden uns alles erzählen? Weshalb nahm ich stets an, dass Josey so gut wie nichts über ihre Schwester wusste? Weshalb glaubte ich, dass niemand mit ihr über Johanna redete? Weshalb hatte ich es nie getan? Es lag doch in meiner Verantwortung. Feigheit, dachte ich traurig. Ich hatte es nie getan, weil ich feige war und weil ich selbst nicht an Johanna erinnert werden wollte.
»Hättest du Lust, ein bisschen mit Katharina zu spielen?«, fragte David in meine Gedanken und sah Josey an. Sie nickte aufgeregt.
Katharina stand auf und sah zu mir. Etwas Hilfloses lag in ihrem Blick.
Ich ging auf sie zu und nahm sie in die Arme.
»Es tut mir so leid«, sagte sie, »so furchtbar leid.«
Ich strich ihr über den Rücken, wie ich es immer bei Josey tat, wenn sie sich über etwas aufregte.
»Du bist so schön geworden«, sagte ich und ließ sie los. »Wie geht es dir?«
»Prima«, sagte sie. »Ich habe im Sommer die Schule beendet.«
»Katharina.« Davids Stimme hatte den bestimmten Ton jener, die es gewohnt sind, dass man ihren Anweisungen folgt.
Katharina drehte sich um.
»Leckmich«, sagte sie, nahm Josey an die Hand und ging aus dem Zimmer.
»Ich will das nicht diskutieren«, sagte David, als die Tür hinter ihr laut knallend ins Schloss fiel. »Sie ist in der Pubertät, und sie benimmt sich eben so.«
Ich zuckte mit den Achseln. Pubertät! Mit neunzehn Jahren! Was wollte er mir weismachen? Doch ich hatte nicht vor, mich in
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