Im Zeichen der Angst Roman
wie ich reagieren würde. Doch ich konnte Hazel und David schlecht bitten, den Raum zu verlassen. Ich überlegte einen Moment, was ich tun konnte, ohne unhöflich zu erscheinen.
David kam mir zuvor.
»Sollen wir dich einen Moment allein lassen?«
Ich nickte dankbar.
Die beiden Männer erhoben sich und verließen den Raum.
Ich zog den wattierten Umschlag aus der Plastikhülle, wendete ihn und öffnete ihn mit dem Daumennagel.
Ich zog ein weißes Blatt Papier mit einem Wassersiegel hervor und faltete es auseinander.
Mein Herz schlug ein wenig zu schnell, das Papier zitterte in meinen Händen. Ich legte den Brief auf den Schreibtisch, presste die Hände zwischen die Knie, ließ den Blick durch den Raum mit seinen hellblauen Tapeten und den dunklen Bücherborden schweifen, betrachtete den hellblauen Perserteppich aus schwerer Seide - und las endlich.
Horststätt, den 27. 4. 2008
Liebe Clara,
ich weiß, dass du böse auf mich bist, doch wenn du diesen Brief liest, werde ich nicht mehr am Leben sein, und so bitte ich dich, vergib mir. Vergib mir, dass ich nicht bei dir war und dich tröstete, als du mich am meisten gebraucht hast.
Doch glaube mir, das Leben nimmt nicht immer den Lauf, den man sich wünscht.
Als ich euch verließ, ging ich mit dem Einverständnis deines Vaters. Es wird dir vielleicht schwerfallen, das zu glauben. Doch so war es. Ich ließ ihn schwören, dir niemals und unter keinen Umständen zu erzählen, weshalb ich euch verließ.
Doch in dem Augenblick, in dem du diesen Brief in den Händen hältst, haben sich die Dinge geändert, und so glaube ich, dass du ein Recht darauf hast zu erfahren, weshalb ich dich und deinen Vater allein zurückließ.
Im Herbst 1948 bekam ich eine Tochter. Ich habe sie im amerikanischen Sektor von Berlin geboren und zur Adoption freigegeben. Ich ahnte damals nicht, dass ich diesen Schritt mein Leben lang bereuen würde, denn was konnte ein kleines, unschuldiges Baby dafür, dass der Vater die Mutter dieses Kindes mit Gewalt genommen hatte.
Meine erste Tochter hat mich 1989 gesucht und gefunden. Ich habe euch verlassen, um die Schuld, die ich mit ihrer Adoption auf mich geladen habe, abzutragen. Ich habe auch ihren Vater gefunden und zur Rechenschaft gezogen.
Sein Name tut nichts zur Sache.
Ihr Name ist Madeleine Lehmholz. Sie hat eine kranke Tochter. Sie erwartet deinen Anruf, denn sie weiß um dich. Ihre Handynummer ist: 0147/344 45 86.
Ich bitte dich sehr, gib ihr eine Chance und versuch, sie ein wenig kennen zu lernen. Vielleicht kannst du sie dann in dein Herz schließen, wie ich sie in mein Herz geschlossen habe - und vielleicht gewinnst du dann eine treue Freundin.
Ich habe mein Testament im Nachlassgericht von Bad Oldesloe hinterlegt, das sich zu gegebener Zeit an dich wendet.
Schlussendlich bitte ich dich nur noch um eines: Egal, was geschehen ist, lass uns Tote ruhen. Lebe dein Leben und sieh nicht zurück. Blick nach vorn, für dich und für deine Tochter Josephine. Ich hätte sie so gern aufwachsen gesehen.
Ich liebe dich, und ich vertraue dir und deiner Großzügigkeit.
In Liebe,
deine Mutter
Meinen Kopf umgab eine Klammer aus arktischem Eis. Kalt und klar presste sie mir das Gehirn zusammen.
Ich vergaß, wo ich war und mit wem ich hier war. Nach 20 Jahren hielt ich endlich etwas in den Händen, das von meiner Mutter war. Ich streichelte das Wasserzeichen auf dem Papier, das sie für diesen letzten Brief an mich ausgewählt und beschrieben hatte. Ich zog mit dem Zeigefinger ihren Namenszug nach. Ich wollte, dass sich etwas in mir regte, eine Erinnerung vielleicht oder ein Gefühl des Wiedererkennens. Vielleicht ein Bild aus gemeinsamen Tagen. Doch meine Mutter glitt so flüchtig durch mich hindurch, als sei sie eine Gestalt aus einem Buch, das ich vor langer Zeit gelesen hatte.
Ich las den Brief noch einmal. Der Name sprang mich an. Madeleine Lehmholz. Was für ein sperriger Klang.
Langsam dämmerte mir, was meine Mutter mir mitteilte.
Ich las diesen Brief ein drittes Mal, und endlich verstand ich. Dabei schien mir das Gelesene so ungeheuerlich, dass ich wünschte, sie hätte es mir nicht geschrieben.
Meine Mutter hatte nie aufgehört, mich zu lieben. Gut. Das hatte ich längst verstanden, auch wenn es meinen Schmerz über ihr Weggehen nicht linderte.
Sie hatte eine zweite Tochter und ich eine Halbschwester, gezeugt während einer Vergewaltigung zwei Jahre nach dem Ende des Krieges, geboren 1948 und freigegeben zur Adoption.
Ich
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