Im Zeichen der Angst Roman
hielt die Luft an und lauschte, ob sich nicht irgendwo jemand regte, der besser in dieses Haus passte als ich und mich nun heimlich beobachtete. Es kam mir
vor, als würde ich etwas Verbotenes tun. Es glich jenem Gefühl, das man als Kind hatte, wenn man vor Weihnachten heimlich die Schränke und Abseiten nach versteckten Geschenken durchsuchte. Man zitterte innerlich vor Aufregung und Neugierde und hatte ein schlechtes Gewissen, weil man wusste, dass man etwas Ungehöriges tat. Zugleich fürchtete man sich vor Entdeckung und Strafe.
»Sieh dich um«, sagte David, als er zurückkam.
Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper und blieb, wo ich war.
David musterte mich, ein ungläubiges Lächeln im Gesicht. »Hör auf, ein schlechtes Gewissen zu haben. Sie hat dir den Schlüssel hinterlassen.«
Er hatte Recht. Ich riss mich zusammen und gab mir einen Ruck. Es gab hier niemanden außer uns, und wir taten nichts Unrechtes.
Ich betrat einen Raum nach dem anderen, rasch und ungeduldig. Das Wohnzimmer war recht groß, eine offene Küche schloss sich an. Aus beiden Räumen führte eine Tür in den Garten. Ich sah in die Gästetoilette, in einen Abstellraum, in etwas, das nach einem Gästezimmer aussah. Alles war perfekt und erlesen. Doch nirgendwo erkannte ich die Handschrift meiner Mutter. Keine Fotos, kein verspielter Nippes, wie sie es in unserem Zuhause in Solthaven so geliebt hatte.
Wir stiegen die Treppe hinauf in den ersten Stock. Schlafzimmer, Badezimmer, Arbeitszimmer, noch ein Gästezimmer. Jeder Raum war in einer anderen Farbe tapeziert, alles war so unaufdringlich, stilvoll und teuer wie in den unteren Räumen, und es war peinlich sauber und aufgeräumt. Nirgends lag etwas herum. Ich öffnete eine weitere Tür. Dahinter verbarg sich ein mittelgroßer Raum mit Regalen und Schränken. Sie waren bis obenhin gefüllt. Meine Finger strichen an Jacken, Hosen, Blusen entlang. Ich sah auf die Schuhsammlung. Es mussten an die 50 Paar sein. In jedem Schuh steckte ein Spanner.
Meine Mutter war tatsächlich ein Klamottenjunkie geworden. Ich schüttelte den Kopf. Die Freiheit des Westens bestand für sie unübersehbar in der Wahl der richtigen Designer. Ich verstand sie immer weniger.
Ich ging zurück in das Arbeitszimmer mit seinen hellblauen Tapeten, die zu den dunklen Mahagonimöbeln einen reizvollen Kontrast bildeten.
David saß an einem auf Hochglanz polierten Schreibtisch. Ein Telefon und ein Laptop standen seitlich, auf einer Schreibunterlage lag ein schmaler Ordner. Auch in diesem Raum gab es keine Fotos. In der Wand hinter dem Schreibtisch stand die Tür eines Safes offen. Ich hatte ihn das erste Mal nicht bemerkt.
Ich zuckte zusammen, als ich unten die Tür hörte.
»Das ist nur Hazel«, sagte David.
Ich wandte den Kopf zur Tür. Dahinter polterte Hazel mit schwerem Schritt die Treppe herauf.
»Kein Geländewagen zu sehen«, sagte er und zuckte mit den Achseln. »Macht nichts. Er wird sich früher oder später wieder an uns heften, und dann schnappe ich mir den Kerl.«
Er schaute sich um und ging zu einem Sessel am Fenster. In seiner Hand hielt er eine Pistole. Ich konnte die Marke nicht erkennen, aber sie sah ziemlich groß aus, und ich vermutete, ihre Patronen hinterließen sehr unverträgliche Löcher.
»Ich hab ihn geöffnet«, sagte David und zeigte auf den offenen Safe.
»Wie hast du das so schnell gemacht?«, fragte ich und betrachtete das Zahlenschloss.
»Deine Mutter mag ja in vielem ganz clever gewesen sein, aber im Verstecken von Zugangscodes ist sie ziemlich einfallslos. Der Zettel mit den Nummern klebte unter der Schreibtischschublade.«
David tippte auf den Ordner.
»Der ist für dich. Dein Name steht drauf.« Er stand auf, zog einen Stuhl für mich heran.
Als ich mich neben ihn setzte, nahm ich seine Wärme einen flüchtigen Augenblick lang wahr und roch sein Parfüm. Es erinnerte mich an Meer, Zedern und Sandelholz. Männlich und frisch.
Ich konzentrierte mich auf den Ordner. Es war ein gewöhnlicher Sigma-Ordner mit einem grau marmorierten Pappeinband.
»Für Clara«, stand auf dem weißen Beschriftungsetikett auf dem Rücken.
»Der lag im Safe?«, fragte ich.
»Ja.«
Nervös schlug ich ihn auf, blätterte ihn durch. Es gab eine Lebensversicherung zu meinen Gunsten, eine Autoversicherung, noch ein paar andere Versicherungen und einen Briefumschlag, der in einer Plastikfolie abgeheftet und an mich adressiert war.
Ich wäre jetzt gern allein gewesen, denn ich wusste nicht,
Weitere Kostenlose Bücher