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Im Zeichen der Angst Roman

Titel: Im Zeichen der Angst Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Ich wusste nicht, was ich erwidern sollte, und deshalb sagte ich: »Das ist meine Tochter Josephine.«
    Josey stand neben mir. Ihre kleine, warme Hand steckte fest in meiner.
    »Guten Tag«, sagte Josey und reichte ihm die andere Hand. Ich erstarrte, denn sie versuchte etwas, das ein Knicks sein konnte. Ich schwöre, ich habe es ihr nicht beigebracht.
    »Hallo, Josephine«, sagte Rauh zu ihr. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen und dann in seine Augen. Dann wandte er sich wieder zu mir. »Ich freue mich, dich nach all diesen Jahren wiederzusehen, auch wenn der Anlass ein überaus trauriger ist. Deine Mutter war ein großartiger Mensch und eine ebenso großartige Lehrerin, auch wenn sie mit ihrer Flucht all unsere Ideale verriet.«
    Er konnte es nicht lassen. Er war immer noch der alte, aufrechte Genosse, der mit der zerbrechlichen Kraft seines ausgemergelten Körpers an die Macht der Arbeiterklasse glaubte und an etwas, das man zu Zeiten der DDR als realen Sozialismus bezeichnete hatte. Doch diese Ideale hatten auf tönernen Füßen gestanden, und die Parolen waren aus vom sozialistischen Alltag längst entleerten Herzen gekommen. Es war tragisch, traurig und bedauernswert.
    »Ich freue mich auch, Sie wiederzusehen«, erwiderte ich förmlich und fühlte mich so unbehaglich wie als Schülerin, wenn er mich beim Rauchen auf der Toilette erwischt hatte.
    Rauh krauste die Stirn.
    »Lügen war noch nie deine Stärke«, sagte er, und ich ertappte
mich dabei, wie ich mich entschuldigen wollte, als sei er noch immer der Grizzly und ich eines der Jungen, das er zurechtwies.
    Es war nicht leicht für mich, die Tochter einer Englischlehrerin zu sein, die an derselben Schule unterrichte. Es schien mir stets so, als erwarteten alle von mir, eine perfekte Schülerin zu sein. Kam ich dem nicht nach, verhängten die Lehrer über mich eine drastischere Strafe als über jedes andere Schulkind. Ich war das Mädchen, das am häufigsten nachsitzen musste, wenn es den Lehrern ins Wort fiel. Ich war auch das Mädchen, das seine Arbeiten zu Hause am häufigsten neu abschreiben musste, sobald ich zu viele Tintenkleckse, durchgestrichene Wörter oder Kritzeleien auf der Seite verteilt hatte. In den ersten Jahren meiner Schulzeit galt ich zum Leidwesen meiner Mutter als »Problemkind«, dessen schulische Leistungen laut Zeugnis zwar gut waren, dessen Kopfnoten für »Betragen« und »Ordnung« jedoch regelmäßig ein »Ungenügend« auswiesen.
    »Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte ich. »Ich weiß das zu schätzen.«
    »Deine Mutter wurde in Hamburg erschossen, nicht wahr?«
    Ich nickte. Josey steckte ihren Daumen in den Mund, was sie schon seit Jahren nicht mehr tat. Ich wollte ihn schon herausziehen, doch dann begriff ich, weshalb sie so erregt war.
    »Die Polizei tappt im Dunkeln?«
    Ich zuckte mit den Achseln und sah auf meine Tochter hinab, deren Kopf wie aufgezogen von ihm zu mir und dann wieder zurückschwenkte.
    »Ich möchte mit dir reden, bevor du die Stadt verlässt«, sagte er leise, und ein Speicheltröpfchen sammelte sich in den aufgerissenen Mundwinkeln. »Deshalb bin ich hier.«
    Ich nickte erneut. Mit einer Geste des Stockes bedeutete er mir, dass er gehen wollte. Ich folgte ihm mit Josey durch die leere Bankreihe.
    »Darf ich Sie nach draußen begleiten?«, fragte ich, als wir den Gang erreichten.

    Rauh nickte. Ich reichte ihm meinen Arm, und er hakte mich unter.
    »Ich kann nicht mit zu der Urnenbeisetzung kommen«, sagte er draußen. »Das lange Stehen ist nichts mehr für mich. Und dann die Kälte«, fügte er entschuldigend hinzu.
    Josey sah von unten zu ihm hinauf. Unter der Mütze fielen ihr die langen roten Haare tief in den Rücken.
    »Es ist nicht so schön, wenn man nicht mehr gehen kann, nicht wahr?«, sagte sie.
    Rauh lächelte.
    »Ich bin schon sehr alt, Josephine. Wenn man so alt ist, dann ist man genug in seinem Leben gegangen. Dann sind die Beine etwas müde und müssen sich ausruhen. Und das ist auch gut so.«
    »Meine Beine waren heute beim Spielen auch müde«, sagte Josey, und ein Schatten flog über ihr Gesicht. »Ist das auch gut oder nicht so?«
    »Knifflige Frage«, sagte Rauh und lächelte. »Was meinst du selbst?«
    Josey dachte so angestrengt über ihre Frage nach, dass sie aussah, als würde ihr Kopf gleich explodieren. Schließlich sagte sie: »Ich glaube, meine Beine müssen vielleicht nur schlafen gehen. Dann ist es wieder gut. Aber Ihre sind dann immer noch müde, oder?«
    Rauh

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