Im Zeichen der Angst Roman
Steine?«, fragte ich.
Sie nickte und klopfte auf ihre Jackentasche.
Hand in Hand gingen wir im milden Mittagslicht den aufgeweichten Friedhofsweg entlang, umgingen dort eine Pfütze oder hier kleine Rinnsale. Trotzdem versanken meine schwarzen Lederstiefel immer wieder in morastiger Erde. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Feuchtigkeit durch das dünne Leder dringen würde und ich kalte, klamme Füße bekäme. Wasserdichte Stiefel, wie Josey sie trug, wären auch für mich die bessere Wahl gewesen.
Josey hüpfte ausgelassen neben mir her und plapperte mal wieder aufgeregt auf mich ein. Ich hörte nicht richtig zu und hing meinen Gedanken nach.
Kai und ich hatten diesen Friedhof geliebt, und während unserer Schulzeit waren wir hier so manchen lauen Sommerabend eng umschlungen herumspaziert, hatten die prachtvollen Blumen bestaunt, die Namen auf längst verfallenen Gräbern entziffert und den Toten abenteuerliche Lebensgeschichten erfunden. Es war ein alter Friedhof mit ausladenden Kastanienbäumen, hohen Tannen, schlanken Buchen und beleibten Rhododendren. Für Kai hatte immer festgestanden, dass er nur auf diesem Friedhof und auf keinem anderen beerdigt werden wollte, und noch während unseres Studiums hatten er und seine Eltern gemeinsam eine Familiengrabstelle gekauft, auf der auch ich damals noch einen Platz haben sollte.
Mich hatte nie interessiert, wo ich beerdigt würde. Ich hatte genug mit dem Leben zu tun, und es war mir einerlei, neben wem oder wo ich eines Tages liegen würde. Friedhöfe konnten noch so schön sein, zunächst einmal waren die Gräber für mich nichts anderes als der sichtbare Schlussstrich unter unserem Leben.
Joseys Stimme perlte so beschwingt durch meine Erinnerungen wie eine Melodie von Maurice Ravel, und ab und an gab ich ein »Hm« von mir, während ich meinen Blick über den Friedhof streifen ließ.
An den Nordseiten der Baumstämme hatte der Wind kleine Schneehaufen zusammengeschoben, und Gräber, die im Schatten der Bäume lagen, bedeckte der Schnee wie schimmerndes Pergament. Nur auf den sonnenbeschienenen Lagen war er geschmolzen, und Wasser tröpfelte dort von den steinernen Grabkanten auf die Erde.
An einem runden Brunnen aus unbehauenen Natursteinen bogen wir links in eine Grabreihe ein. Kais Grab war das neunte und gedeckt mit Blautanne und Moos. Eine Vase mit weinroten Winterastern stand im Schatten des Steins, und auf den dicken Blumenköpfen schimmerten ebenfalls kleine Inseln aus Schnee.
»Kai Steinfeld«, entzifferte Josey langsam und grinste mich stolz an.
»Toll«, sagte ich, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und steckte sie unter die Mütze.
Sie fummelte in ihrer Jackentasche herum. Strahlend hielt sie mir die beiden Steine entgegen, die sie in Hamburg aus ihrer Sammlung herausgesucht hatte.
»Für meinen Papa?«, fragte sie, und ich nickte.
»Das ist schön«, sagte sie, gab beiden Steinen einen Kuss, und dann legten wir sie auf den Grabstein.
»Können mein Papa und Johanna mich jetzt sehen?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
Josey runzelte die Stirn und sah in den wolkenlosen Himmel mit der fahlen Mittagssonne.
»Ich glaub nicht«, sagte sie ernsthaft. »Ich glaub, sie brauchen eine Wolke, auf der sie sitzen können, und jetzt ist gerade keine da.«
Ihre Logik entwaffnete mich einmal mehr und raubte mir jede Möglichkeit einer Entgegnung. Ich nahm sie in den Arm, drückte ihren Kopf an meinen Bauch und streichelte ihr die Haare.
»Mama«, sagte sie und stieß mich unsanft weg. »Ich bin jetzt groß.«
Ich verlor kurz das Gleichgewicht und trat gegen die Blumenvase, die umfiel. Das Wasser übergoss meine Stiefel.
»Josey«, sagte ich streng. Sie reagierte nicht, und ich schaute in die Richtung, in die sie blickte.
Eine Reihe weiter stand ein Junge in ihrem Alter mit einem kleinen weißen West-Highland-Terrier vor einem Grab und sah zu uns herüber. Der Hund pinkelte gerade an den Grabstein. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Immerhin wusste ich jetzt, weshalb meine Tochter so reagiert hatte. Keine Erstklässlerin lässt sich gern im Beisein des anderen Geschlechts wie ein Kindergartenkind behandeln. Ich hatte noch eine Menge zu lernen.
Ein Mann spazierte an dem Jungen vorbei. Er sagte im Vorbeigehen etwas zu ihm. Als er vorbei war, schnitt der Junge eine Grimasse und zog den Hund an der Leine hinter sich her in die entgegengesetzte Richtung.
Der Mann drehte sich noch einmal um und schaute dann zu uns.
Er trug eine
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