Im Zeichen der Angst Roman
selbstverständlich an die Hand nahm.
Vielleicht muss man weinen, wenn man seine Mutter beerdigt, und vielleicht sollte ich mich schämen, weil ich keine Tränen für sie hatte. Aber so war es. Ich sah auf die Urne hinab, die inzwischen fast völlig von Rosen bedeckt war, und suchte nach einem Gefühl in mir. Doch da war nichts außer einer großen Leere und einer unbestimmten Traurigkeit, die ich für jeden empfand, der sich ungewollt und zu früh aus diesem Leben verabschieden musste.
Meine Mutter hatte mich die ganzen Jahre lang als Schatten begleitet, der manchmal aus einer Zwischenwelt zu mir glitt und stets aufs Neue die alten Fragen hinterließ.
Doch all die Jahre lang habe ich jedes Mal Abschied genommen, sobald ich nur an sie dachte. Vielleicht hat man dann irgendwann keine Trauer und keine Tränen mehr.
Ich sah zu Madeleine und Rebecca. Man sah ihnen nicht an, was sie dachten. Doch auch sie weinten nicht.
»Wir müssen zurück«, sagte Madeleine am Ausgang des Friedhofs. »Rebecca geht es nicht gut. Sie hat gerade eine schwere Grippe überstanden, und die lange Fahrt und die Beerdigung haben sie ermüdet. Sie wollte nur unbedingt dabei sein. Sie hat so sehr an Claire gehangen.«
Ich sah zu Rebecca hinunter, die unter ihrem Hut teilnahmslos zu mir heraufschaute. Erst jetzt bemerkte ich die dunklen Schatten unter den Augen.
»Danke, dass ihr da wart«, sagte ich und sah ihnen schließlich nach. Leicht vorgebeugt schob Madeleine den Rollstuhl in Richtung Parkplatz. Sie sprach mit ihrer Tochter, die den Kopf zurückgedreht hatte und etwas erwiderte. Als sie bemerkte, dass ich ihnen nachsah, drehte sie den Kopf ruckartig nach vorn. Sie saß so aufrecht, als hätte sie einen Stock verschluckt.
David kam zu mir. »Mutter und Tochter?«, fragte er.
Ich nickte.
»Merkwürdiges Gespann«, sagte er.
Ich sah ihn erstaunt an.
»Sie mögen sich nicht. Ist dir das nicht aufgefallen? Es gibt keine Herzlichkeit zwischen ihnen.«
23
Ich hatte nicht erwartet, dass Rena und Martin zum Kaffee ins Hotel »Schwarzer Adler« kommen würden. Doch sie waren da und warteten im Foyer auf mich. Claus stand bei ihnen. Rena und Martin waren gute Bekannte seiner Eltern gewesen, bis die beiden 2004 kurz hintereinander starben.
Das Hotel war das einzige der Stadt, erbaut Anfang des 20. Jahrhunderts mitten im Stadtzentrum, während der DDR-Zeit verkommen zu einer Bauruine, deren vom Frost zersprungene Fenster man mit Brettern nur notdürftig vernagelt hatte. Inzwischen war es wie so vieles in der ehemaligen Hansestadt restauriert und wieder in Betrieb genommen worden.
»Meine Schwiegereltern«, sagte ich entschuldigend zu David und griff nach Joseys Hand. Fragend sah sie zu mir hoch.
»Wir gehen jetzt zu deinen Großeltern, den Eltern deines Papas«, sagte ich. »Ich erklär es dir nachher, okay?«
Der Blick meiner Schwiegermutter streifte mich kurz und kühl, als ich vor ihr stand. Dann sah sie zu Josey hinunter. Ich stand dicht hinter meiner Tochter. Meine Hand lag ruhig und wärmend auf ihrem Rücken. Unter den Fingern spürte ich durch ihre zarte Haut die feingliedrigen Rippen wie die Knöchelchen eines Vogels und die feinen Rundungen der Wirbelkörper.
»Ich bin Josey von Papa«, sagte sie.
Rena beugte sich zu ihr hinab.
»Ich freue mich, dich wiederzusehen. Vorhin hatten wir ja keine Zeit, und als ich dich das letzte Mal gesehen habe, da warst du so klein.« Rena machte eine Bewegung mit der Hand in Höhe ihres Knies.
»Hallo, Kleines«, sagte Martin, lachte und strubbelte ihre Haare.
»Verzeihen Sie«, sagte Mankiewiscs dunkle Stimme neben mir. »Könnten wir einen Augenblick unter vier Augen reden?«
Ich nickte und sah Claus fragend an.
»Es dauert nicht lange«, sagte ich.
»Schon gut«, sagte Claus und grinste zu Josey hinunter. »Wir packen das schon, oder?«
Josey nickte zu ihm hinauf und nahm seine Hand. »Das ist ein Kommissar. Er will immer nur mit Mama sprechen«, sagte sie.
»Ich kümmere mich um die Gäste drüben im Kaminzimmer«,
sagte Rena zu meiner Überraschung. »Sie sollen schon mal zugreifen.«
Ich wusste diese Geste zu schätzen, auch wenn sie mehr für die Öffentlichkeit als für mich gedacht war.
»Danke«, sagte ich.
»Für Josey«, sagte sie und kniff den Mund zusammen. Ich nickte.
Manche Menschen brauchen einen Schuldigen, wenn jemand zu früh stirbt, der ihnen nahesteht. Niemand wusste das besser als ich. Dennoch trafen mich Renas unausgesprochene Schuldzuweisungen jedes Mal
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