Im Zeichen der Angst Roman
nickte bedächtig.
»Wie ist es heute Abend gegen sieben?«, fragte er. »Wir können uns im Krankenhaus treffen.«
Ich sah ihn überrascht an.
»Abteilung Gastroenterologie. Zimmer sechs.«
»Abgemacht«, sagte ich und sah ihm nach, wie er schlurfend den breiten, hellen Kiesweg zum Friedhofsausgang ging.
Dann sah ich zu meiner Tochter hinunter, deren Augen mich traurig musterten. Ich beugte mich zu ihr hinab.
»Deine Mama ist tot«, sagte sie.
»Ja.« Eine Welle der Hilflosigkeit überschwemmte mich.
»Du hast nicht geweint. Ich würde sehr weinen, wenn du tot wärst«, sagte sie und legte ihre Arme um meinen Hals. Ich nahm sie auf den Arm und stand auf.
»Ich bin sehr traurig, dass sie tot ist. Aber ich möchte nicht hier vor all den fremden Menschen weinen.«
»Aber wenn wir zu Hause sind, kannst du ruhig weinen, nicht wahr?«
»Ja, Herzchen«, sagte ich und drehte mich um.
Ich sah in die neugierigen Gesichter von ein paar ehemaligen Nachbarn, zwei ehemaligen Lehrerinnen und vielleicht einem Dutzend Leuten, die ich früher sicherlich einmal gekannt hatte, aber an deren Namen ich mich nicht mehr erinnerte. Sie standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich.
Pastor Liebold winkte mich zu sich nach vorn, und ich ging mit Josey an ihnen vorbei. Die meisten begrüßten mich und drückten mir ihr Beileid aus oder tätschelten Joseys Kopf und erklärten mir, wie stolz meine Mutter auf ihre Enkelin sein würde. »Ich danke Ihnen«, sagte ich oder: »Danke für Ihr Kommen.« Was man eben so sagt, wenn man höflich ist und auf einer Beerdigung.
Eine Gruppe von ungefähr sechs Frauen drehte demonstrativ den Kopf weg, als ich an ihnen vorbeiging. Für manche Menschen würde ich immer eine Mörderin bleiben, die man von Weitem wie ein exotisches Tier betrachtete, aber bitte nicht in seiner Nähe haben möchte.
Dennoch wünschte ich auch ihnen einen »Guten Tag«, wie es sich für eine Mutter gehörte, die ihrer Tochter ein Beispiel an gutem Benehmen geben wollte.
Neben Pastor Liebold standen meine Schwiegereltern. Martin gab mir die Hand und sagte, wie leid es ihm täte. Rena sah mich schweigend an, musterte flüchtig ihre Enkelin - und drehte sich demonstrativ weg.
Bevor ich auf diese Unhöflichkeit reagieren konnte, kam eine schwarz gekleidete Frau um die sechzig, die ich in der
Kapelle nicht bemerkt hatte, durch die Menge auf uns zu. Sie schob einen Rollstuhl, in dem eine andere Frau saß, deren Gesicht von einem großen schwarzen Hut verborgen wurde.
Ich erkannte den schwarzen Hut mit der großen Krempe wieder, auch wenn ich mir selbst sagte, dass es Tausende davon geben musste. Ich kannte nur niemanden, der einen derart monströsen Hut trug.
Ich brauchte Luft, viel Luft. Ich atmete tief durch, dann aus.
Damit hatte ich nicht gerechnet, doch unaufhaltsam kamen sie auf mich zu: meine Halbschwester und angeblich die ehemalige Geliebte des Mannes, den ich umgebracht haben sollte, mit ihrer kranken Tochter.
Ich hatte Madeleine Lehmholz noch am Abend, nachdem ich den Abschiedsbrief meiner Mutter gelesen hatte, eine SMS geschickt, wann sie beerdigt würde. Ich hatte nicht die Kraft gehabt, mit ihr zu sprechen, und ich hatte auch nicht erwartet, dass sie hier sein würde. Es war für mich nach wie vor unvorstellbar, dass ich eine Schwester haben sollte. Doch ich hatte eine, und so war meine Mutter auch ihre Mutter, egal, was ich dachte, fühlte oder mir wünschte. Sie hatte ebenso wie ich das Recht, der Toten die letzte Ehre zu erweisen. Das sagte mir mein Verstand, doch meine Gefühle liefen Amok, denn ich dachte an das Gespräch mit Renner.
Ich ließ meine Schwiegereltern stehen und zog Josey hinter mir her in ihre Richtung. Die ältere Frau schaute mir halb neugierig, halb skeptisch entgegen, und dann überzog ein so herzliches Lächeln ihr Gesicht, dass ich sie instinktiv in die Arme nahm und alle Ressentiments von mir abfielen wie überreife Früchte von einem Baum.
Sie weinte im selben Moment los wie ich, und eine von uns sagte: »Es tut mir so leid«, und die andere sagte es auch, und wir beide meinten nicht nur den Tod unserer Mutter, sondern auch all die Jahre und Jahrzehnte, in denen wir nichts voneinander gewusst hatten.
Ich hatte nie eine Schwester vermisst, und ich hatte auch nie erwartet, eine zu bekommen. Doch nun war sie in mein Leben getreten, und ich dachte, na, mal sehen, vielleicht wird es schön. Madeleine stellte mir ihre Tochter Rebecca vor, von der mir schon Renner und
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