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Im Zeichen der blauen Flamme

Titel: Im Zeichen der blauen Flamme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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golden und zauberte die Erinnerung an vergangene Zeit zurück. Einen magischen Augenblick lang sah er das geheimnisvolle, stolze Antlitz vor sich, das in Hunderten von Nächten sein letzter heiterer Anblick und an ebenso vielen Morgen sein erstes schönes Bild beim Erwachen gewesen war - ein Gesicht, das bis zu seinem letzten Atemzug in seiner Erinnerung weiterleben würde. Doch das Gewicht der Verzweiflung, das ihn niederdrückte, war kaum zu ertragen. Sie hatte nicht das Recht, in dieser Gefühllosigkeit, dieser Starrheit zu verharren, während er ihretwegen litt, in einem Maß litt, wie er nie zuvor auch nur geahnt hatte.
    Doch dann tauchte schwach, undeutlich schimmernd wie ein flackerndes Licht, ein Gedanke in ihm auf. »Das Kind lebt … noch ist nicht alles verloren.«
    Er hob den Kopf, blickte zu dem rauchenden Berg auf; sah die großen, schwarz-weißen Vögel mit ausgebreiteten Flügeln über den Hang segeln. Ein Schauer durchlief ihn: Er wusste, was er jetzt zu tun hatte.
    Zu den Männern sagte er: »Ihr könnt jetzt gehen.«
    Die Offiziere verneigten sich. Und jener, der bisher geschwiegen hatte, fragte: »Herr, was sollen wir unserer Gebieterin ausrichten?«
    Susanoo blickte ein letztes Mal in Kubichis Antlitz. Er scheuchte eine Fliege weg und deckte den Umhang wieder über sie. Dann hob er sie in seine Arme und sprach: »Lasst die Königin wissen, dass ich nach Tatsuda kommen werde, um mein Kind zu holen.«

26
    E r verließ das Tal und wanderte über den mit Felsblöcken und Bäumen bedeckten Abhang. Der Pfad stieg ständig an; doch er, den Kopf über seine Last geneigt, ging ruhig weiter und spürte keine Müdigkeit. Die Luft zwischen den Bäumen regte sich kaum. Die Angst der Tiere verbreitete überall eine fühlbare Spannung, die den normalen Rhythmus des Waldes verwirrte. Ein kleines Pelztier brach aus den Büschen, verschwand in einem Loch. Vögel kreischten erregt in den Ästen. Eine grünlich schillernde Schlange raschelte durch die Halme und ein Reh flüchtete in lautlosen Sprüngen. Susanoo beachtete kaum die Geräusche. Seine wunden Füße trugen ihn weiter und weiter, über Fichtennadeln, Dornen und Geröll. Plötzlich raschelte das Laub, vor ihm stand - zu seiner ganzen Größe erhoben - ein Bär. Sein Pelz war glanzlos und gesträubt; unter den Lidern schimmerten blutunterlaufene Augen.
    Doch Susanoo schritt weiter, wie in Trance; er spürte die scharfe Ausdünstung des Tieres, während er an ihm vorbeiging. Irgendwie wusste er, dass ihn der Bär nicht angreifen würde. Auch als ein zweiter Bär unter einem Felsvorsprung mit tiefem, hustendem Bellen seinen Kopf von einer Seite zur anderen warf, verlangsamte er seinen Schritt nicht. Und der Bär wich vor ihm zurück, schien sich aufzulösen im Dunst. Schwaden verfinsterten die Sonnenscheibe, bis sie wie stumpfes Silber glänzte, und anstelle des Bären wurde die Gestalt einer Frau sichtbar. Susanoo erkannte sie sofort: Es war Emekka, die Hüterin des Berges. Ihr strähniges Haar, vom gleichen Weiß wie ihr grobes Gewand, umhüllte sie wie ein Schleier. Ihre faltige Haut glich einer Ledermaske, straff gespannt über den spitzen Knochen. Unter der bläulichen Tätowierung, die ihre Augen bis zu den Schläfen verlängerte, zuckten schlaffe, wimpernlose Lider.
    Â»Tritt näher, mein Sohn, ruh dich aus«, ertönte ihre Stimme, dunkel und rau wie der Klang einer bronzenen Tempelglocke.
    Er bückte sich, legte die Verstorbene zu ihren Füßen nieder. Kubichis Antlitz schimmerte durch den Stoff, doch er schlug den Umhang nicht zurück. Emekka hielt ihm ein hölzernes Gefäß voll Wasser entgegen. Er trank, und das Wasser schmerzte ihn, als ob Feuer in seinen Körper rann. Als er sich mit der Hand über die Lippen wischte, sah er Blutspuren auf seiner Haut.
    Â»Ich bin gekommen«, sagte er dumpf, »um die Riten zu vollziehen.«
    Sie neigte ruhig den Kopf. »Ich habe dich erwartet. Komm! Dir bleibt nur noch wenig Zeit.«
    Er hob behutsam die Tote wieder auf und folgte der Priesterin, die geräuschlos vor ihm über den Hang schritt. Sie hielt den Rücken gebeugter als früher und setzte die Füße leicht einwärts. Bald hatten sie die Baumzone hinter sich gelassen und schritten über den Basalthang, der in sanfter Wölbung zum Gipfel führte. Die

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