Im Zeichen der gruenen Sonne
Oooohhweieieiuuhhhh!«, antwortete Möhre und hockte sich neben ihren Bruder.
»He, Alex, sag irgendwas!«
»Hülsensack!!!«, kam die schon weit lebendigere Antwort.
»Hülsensack? Was soll das heißen?«, wunderte sich Pit.
»Eines seiner Lieblingswörter«, klärte Möhre sie auf. »Kann alles bedeuten und heißt in diesem speziellen Fall ungefähr so viel wie: Verdammt noch eins – wenn ich das Miststück erwische, zerreiße ich sie, frikassiere ich sie, krempel ich ihr das Äußerste nach innen und suhle mich in ihren Eingeweiden!«
Pit fühlte sich sehr, sehr klein. Alex war nicht nur stärker als sie, er war auch schneller. Langsam und gefährlich hob er sein Gesicht aus dem Dreck und stand auf. Er ließ sein Opfer Pit nicht aus den Augen.
»Äh, hör mal«, versuchte Pit ihn zu beschwichtigen, »wir können über alles reden, ich meine, du hast nicht vor, mir irgendwas zu tun, oder?«
Statt einer Antwort stieß Alex einen markerschütternden Schrei aus und sprang aus dem Stand auf Pit zu – um wieder, diesmal mit Anlauf, im Blumenbeet zu landen. Pit hatte mit der Attacke gerechnet und war in letzter Sekunde zur Seite gesprungen.
Diesmal war Alex sofort wieder auf den Beinen. Blind vor Wut hetzte er Pit kreuz und quer durch den Hof. Zwar war er schneller, aber dafür war Pit wendiger, und ihre Bewegungen waren kontrollierter. Jedes Mal, wenn Alex wieder in die Luft griff, wurde er wütender.
»Wetten, dass er sie nicht kriegt?«, sagte Tom, gerade als Alex einem von Pits Hakenschlägen nicht folgen konnte und krachend in den Mülltonnen landete.
»Wetten doch – um eine Cola, okay?«, hielt Möhre dagegen, setzte sich wieder auf den Eimer und feuerte ihren Bruder lautstark an.
Alex trieb Pit immer mehr in eine Ecke des Hofes, wo ihr keine Fluchtmöglichkeiten zu bleiben schienen. Rechts von ihr waren die Garagen, links stieg die efeubewachsene Mauer auf – und vor ihr stand schwer atmend der siegessichere Alex.
»Zieh deine Brille aus, oder ich garantiere für nichts!«, keuchte er und kam langsam, Schritt für Schritt, auf sie zu. Aber Pit hörte nicht zu. Blitzschnell errechnete sie ihre Fluchtchancen.
Das Dach der Garagen ist zu hoch, schoss es ihr durch den Kopf, um aus dem Stand hinaufzugelangen … (»Zieh endlich die verdammte Brille aus!«) … Die einzige Möglichkeit ist, die dicht bewachsene Wand hochzuklettern. Aber ich bin zu schwer für die Ranken, die werden reißen! … (»Ich werde dich schlachten und verspeisen, das schwör ich dir!«) … Die Mauer dahinter ist ziemlich kaputt, da sind genug versteckte Kanten, wo ich mich draufstellen kann … (»Irgendwelche letzten Worte, irgendwas, was du der Nachwelt erhalten willst?«) … Wenn ich auf ’ner Kante stehe und mich in die Efeuranken kralle, … (»Keine Sorge, es wird schrecklich lange dauern und sehr, sehr qualvoll sein!«) … komme ich vielleicht hoch genug, um auf das Garagendach zu springen … oder um von der Wand zu fallen und mir das Genick zu brechen … (»Attacke!!!«) … Aber das ist nun mal das Risiko, das ich einkalkulieren muss.
Alex machte einen großen Schritt vorwärts … und griff ins Leere. Verdutzt drehte er sich um – wo war sie hin? Ein verdächtiges Rascheln ließ ihn herumfahren. Sie hing wie eine Spinne an der Wand und kletterte höher. Alex setzte zur Verfolgung an. Pit wollte gerade auf das Garagendach springen, aber es war zu spät. Alex erwischte sie am Hosenbein und zog.
»He, hör auf!«, schrie Pit ihn an, aber schon rutschte sie mit dem Fuß von dem Vorsprung. Der Efeu riss und Pit fiel mit einem langgezogenen Schrei zu Boden. Sie versuchte, irgendwo Halt zu finden und fräste eine breite Schneise in den Mauerbewuchs.
Ihr Sturz wurde weich abgefedert – von Alex, der genau unter Pit gelandet war und nicht mehr rechtzeitig ausweichen konnte.
»Die haben sich mindestens was gebrochen!«, rief Möhre erschrocken und rannte zu den Garagen. »He, lebt ihr noch?«
Pit hob mühsam den Kopf und blickte Möhre glasig an. »Mir g-geht’s gut. Wo ist dein Bruder?«
Ein langgezogener Seufzer unter ihr beantwortete die Frage. »Okay, du hast gewonnen, ich geb auf, aber geh bitte von mir runter!« Alex lag mit dem Gesicht im Dreck. Vorsichtig kam Pit auf die Beine, jede Bewegung tat weh. Plötzlich stutzte sie. Dort, wo sie beim Absturz den Efeu weggerissen hatte, war die Mauer freigelegt und … eine Tür. Eine vergammelte, moosbewachsene Holztür, die bisher unsichtbar
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