Im Zeichen der Krähe 2: Die Totenhüterin (German Edition)
und ging auf den Feuerring zu. Auf der anderen Seite des Grabens saß Vara die Schlange auf einem Baumstamm und säugte ein Kind. Ihr scharfer Blick fiel auf Alanka, als diese sich näherte.
„Wer Angst vor Bäumen hat, hat in Kalindos eigentlich nichts zu suchen.“ Das Zwinkern, das darauf folgte, war der einzige Hinweis darauf, dass das ein Scherz sein sollte.
„Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“
Vara neigte den Kopf. „Setz dich.“
Alanka ließ sich neben der Schlange auf dem Baumstamm nieder. Dann erinnerte sie sich an ihre guten Manieren. „Er ist ein sehr schönes Kind.“
„Ich weiß.“ Die Schlange warf sich ihren langen blonden Zopf über die Schulter, damit er dem Jungen nicht ins Gesicht fiel. „Er wird ein Herzensbrecher, so wie sein Vater, daran besteht kein Zweifel.“
„Sind sie das nicht alle?“
Vara lachte leise und schenkte ihr einen anerkennenden Blick, während Alanka den Atem ausstieß, den sie angespannt angehalten hatte. Viele Asermonier sahen auf die Kalindonier herab, aber diese Frau schien freundlich zu sein.
„Du bist jetzt in der zweiten Phase, richtig?“, fragte Alanka.
Varas Antwort waren ein Augenrollen und ein Blick auf das Kind in ihren Armen.
„Offensichtlich“, fügte Alanka hinzu. „Also kannst du Erinnerungen ausbrennen.“
„Es zu können und es zu wollen sind zwei verschiedene Dinge.“ Vara zuckte zusammen. „Autsch, seine Zähne sind direkt unter dem Zahnfleisch.“ Nach einem Augenblick wurde ihre Miene wieder freundlicher. „Ich habe kaum Übung darin, Erinnerungen zu verbrennen. Ich kann nur das ganze Leben eines Menschen auf einmal auslöschen, und das will niemand.“
Alanka spürte den Drang, sich abzuwenden, vielleicht sogar vor der Frau neben sich wegzulaufen. Die Gaben einer Schlange galten als so gefährlich, dass nur die stärksten Gemüter von diesem Geist auserwählt wurden. Lorek, die kalindonische Schlange, hatte ihr schon Angst gemacht, als sie als Kinder zusammen gespielt hatten. Aber sie vermisste ihn genauso sehr wie die anderen, die geraubt worden waren.
„Dann kannst du mir nicht helfen.“
„Noch nicht. Es tut mir leid.“ Varas Blick wurde weicher. „Was willst du vergessen?“
Alanka ließ das Kinn auf ihre Hände sinken. „Eine einfachere Frage wäre: Woran will ich mich noch erinnern? Es ist alles so schrecklich. Sieh uns an.“ Sie deutete auf die Männer, die am Feuerring arbeiteten. „Wir sind gewillt, unser eigenes Dorf abzubrennen, um eine weitere Invasion zu verhindern. So verrückt sind wir vor Angst.“
„Ihr werdet das Dorf nicht niederbrennen“, entgegnete Vara empört. „Um das zu verhindern, bin ich doch hier.“
Alanka hörte sie kaum. „Ich frage mich, ob die Menschen sich vor dem Wiedererwachen so verhalten haben. Während des Zusammenbruchs?“
Vara stieß einen verächtlichen Laut aus. „So etwas wie das Wiedererwachen gibt es nicht. Warum klammert ihr Kalindonier euch so an Mythen?“
„Weil es einen Sinn ergibt. Diese Nachfahren sind wie die Menschen vor dem Wiedererwachen. Sie glauben, sie können sich nehmen, was immer sie wollen. Wenn die Menschen ohne Geister so werden, dann war damals, ehe die Geister uns auserwählt haben, jeder so.“
Erneut gab Vara einen verächtlichen Laut von sich. „Wenn das stimmt, wo waren die Geister dann vor dem Wiedererwachen? Haben sie herumgestanden und nichts getan? Waren sie schwach?“
„Vielleicht glaubten sie, wir könnten uns selber retten. Und als wir das nicht geschafft haben, haben sie jenen gegenüber Gnade gezeigt, die auf sie gehört haben. Mit denen, die friedlich sein und im Einklang mit der Natur leben wollten und die darauf vertrauen konnten, dass die Geister sich um sie kümmern.“
„Wie ihr Kalindonier.“
„Genau. Wir roden keine Wälder, bauen keine Straßen …“
„Ihr macht euch auch keine Gedanken um die Zukunft.“ Vara nickte in Richtung des Dorfes. „Sieh doch, wie weit der Friede und das Vertrauen euch gebracht haben.“
Alanka wusste, dass sie naiv klang, so wie ihr Vater. Dann kam ihr ein neuer Gedanke. „Aber was, wenn es eines Tages ein weiteres Wiedererwachen gibt, wenn die Dinge wieder richtig schlimm werden?“
„Du glaubst, die Geister werden kommen, um uns vor den Nachfahren zu retten?“
„Oder sie helfen uns, uns selbst zu retten.“
Vara sah auf das Kind in ihren Armen hinab. „Das ist ein netter Traum.“ Sie blinzelte fest und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Feuerring
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