Im Zeichen der Menschlichkeit
die Rotkreuzfahnen. Doch sie bleiben verschont – es ist ein Aufklärungsflieger, der die zerstörten Stellungen dokumentiert.
Die letzten Kriegswochen brechen an. Während Fünfzehnjährige zum Volkssturm eingezogen werden und in Kleinst-Unterseebooten zu Himmelfahrtskommandos auslaufen, warten viele Volksgenossen noch immer auf die Wunderwaffe. Die Gerüchte jagen einander, der Staat zerfällt. Wer sich den unsinnigen und selbstzerstörerischen Befehlen widersetzt, wird kurzerhand an die Wand gestellt. Die Zwangsarbeiter auf Wangerooge sollen ermordet werden, als lästige Zeugen wie als mögliche Bedrohung nach ihrer Befreiung. Der Befehl gelangt nicht mehr zur Ausführung. Hastig beseitigen die Verantwortlichen in den Kommandostellen und Parteibüros noch verräterische Dokumente, bevor sie sich aus dem Staub machen. Selbst die Akten des Kindergartens werden verbrannt.
Der lange Weg nach Hause: Warm eingekleidet und mit beträchtlichem Gepäck ist dieses Mädchen 1946 auf dem Weg nach Spremberg in der Niederlausitz.
© DRK
KAPITEL 8 »Der kalte Frieden«
Neubeginn in Ost und West
»Und dein Vater?«
»Der ist noch im Krieg,
aber er schießt nicht mehr.«
HAMBURGER JUNGE AUF
EINEM KINDERTRANSPORT, 1947
Im Sommer 2005 unternimmt die Augusta-Schwesternschaft aus Lüneburg eine Reise in die Vergangenheit. Die meisten Schwestern stammen aus Norddeutschland, die übrigen von überall her. Die ganz alten aber kommen alle vom gleichen Ort: aus Breslau. Einer Stadt, deren Straßen und Bauten teilweise noch erhalten sind und die doch, so wie sie war, seit dem Krieg unwiederbringlich verschwunden ist.
Hier, in der alten Handelsmetropole an der Oder, war die Augusta-Schwesternschaft im Jahr 1875 durch den Vaterländischen Frauenverein gegründet worden. Nach der Jahrhundertwende, als Florentine Spyra ihre dreijährige Lehrzeit im Krankenhaus begann, wirkten etwa fünfzig Schwestern und Helferinnen in der stolzen Backsteinbastion nahe der Dominsel. Die dreijährige Ausbildung genoss über Deutschland hinaus einen guten Ruf; während des Russisch-Japanischen Krieges führte eine der Schwestern gar ein großes Lazarett in Tokio. Im Ersten Weltkrieg kamen sie vor allem an der Ostfront zum Einsatz. 1917 schied Florentine dann aus der Schwesternschaft aus, um zu heiraten. Ihre Tochter Eva scheint Beruf und Berufung geerbt zu haben. Mit zwanzig tritt sie in die Gemeinschaft ein, die bei Kriegsbeginn auf rund dreihundert Schwestern anschwillt, mitsamt Lehr- und Hilfsschwestern auf tausend. Trotz des Ausnahmezustands achtet die Oberin unvermindert auf Etikette, vor allem bei Tisch. Sie thront am Kopfende, die älteren Schwestern sitzen um sie herum, die Schülerinnen am unteren Ende der Tafel. Zu Beginn spricht sie das Tischgebet; beim Hinausgehen flüstert sie jeder Schülerin zu, was sie falsch gemacht hat: zu viel Suppe gegessen, zu viel gelacht. Ob sie das Lachen der Mädchen später vermisst hat? Der Enthusiasmus der ersten Kriegstage weicht jedenfalls bald gründlicher Ernüchterung: Schwester Hanne muss in Charkow 180 Patienten allein auf der Kopfschussstation versorgen, Schwester Minna ist bei Tscherkassy für die Überlebenden einer der großen Kesselschlachten dieses Krieges verantwortlich (»Schlimm sahen sie aus«). Schwester Bertha verschlägt es nach Cortina, während Schwester Eva im heimischen Schlesien zum Einsatz kommt.
Am 30. Januar 1945 wird Breslau zur Festung erklärt. Das Krankenhaus liegt in der Altstadt, das Mutterhaus in der Vorstadt – die Verbindung ist gekappt. Während rund um die Stadt die Stalinorgeln rauschen, reihen einige Schwestern sich in den Flüchtlingsstrom ein und schlagen sich zu Fuß bis zur Neiße durch. Schwester Minna findet in einem Dresdner Krankenhaus ein Unterkommen, nur um dort die verheerenden Luftangriffe mitzuerleben. Eva Spyra gelangt bis Goslar, in den vermeintlich rettenden Westen. Da laufen Bahnbeamte die Waggons entlang und rufen: »Alles raus und verteilen!« Tiefflieger nehmen den Zug unter Feuer. Die Kugeln peitschen um sie her, und wenn nicht ein Soldat sie geistesgegenwärtig hinter eine Mauer gezogen hätte, wäre sie womöglich getroffen worden.
Nicht allen Rotkreuzhelfern gelingt die Flucht. Sie werden unterwegs von der Roten Armee oder von polnischen Milizen eingeholt; ganze Lazarettzüge geraten in Gefangenschaft. Einige wenige Schwestern sind in Breslau verblieben. Für sie alle beginnt eine jahrelange Odyssee des Leidens mit Zwangsarbeit und
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