Im Zeichen der Menschlichkeit
Fällen zur Bändigung von angetrunkenen Krakeelern die Hilfe des Heeresstreifendienstes in Anspruch zu nehmen. Das war schon erforderlich zur Wahrung des Niveaus unserer Einrichtung in den Augen der Zivilbevölkerung.« Manierlicher geht es zu, wenn im Rahmen der Truppenbetreuung eine Künstlergruppe gastiert. Einem »Damentrio« würde Piehler sich am liebsten anschließen, übt sie sich doch selbst in Kleinkunst und Gitarrenspiel.
Mehrfach müssen die Mitarbeiter in den Splittergräben im Garten Schutz suchen. Bei einer der wöchentlichen Kaffeestunden der Kommandeure nehmen Tiefflieger das Heim unter Feuer – die lange Reihe von Kraftwagen ist der britischen Aufklärung nicht entgangen. Danach kündigt das französische Personal en masse. Eine schwierige Situation, denn in dem fünfzig Kilometer breiten Sperrgebiet sind Hilfskräfte rar. Überhaupt muss Piehler sich mit allerhand Problemen herumschlagen, mit Stromausfällen und Trinkwassermangel, mit Mäuseplage und Partisanengefahr. Dennoch genießt sie ihre Mission und gibt sich, wann immer sie kann, dem elegischen Blick auf den Ärmelkanal hin »und dem geheimnisvollen Rauschen des Meeres. Man könnte vergessen, daß Krieg ist.«
Mitte Mai 1944 kündigt sich überraschend der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe B und Inspekteur des Atlantikwalls an, Erwin Rommel. Ausgerechnet am Ruhetag, als das Personal Ausgang hat. Aufgeregt lässt Piehler die beste Tischwäsche auflegen und die Gläser blank polieren. Rund dreißig hohe Militärs rücken an, gefolgt von einem Tross aus Fahrern, Ordonnanzen, Film- und Bildberichterstattern. Zu Mittag wünscht der Generalfeldmarschall Erbsensuppe mit reichlich Speck; danach steht eine Lagebesprechung im Garten an. Die Vögel zwitschern, die Rosenbüsche blühen – »Es war ein Bild des Friedens.«
Drei Wochen später bricht die Hölle los. Am 6. Juni landen die Alliierten in der Normandie, und das Heim gerät mitten in die Kampfzone. Die ersten Schlauchboote erreichen den Strand, Lastensegler und Fallschirmtruppen landen im Hinterland. Tags darauf werden Charlotte Piehler und ihre Kolleginnen ins Festungslazarett Cherbourg abkommandiert. Blitzartig schlägt die bisher fast familiäre Atmosphäre um. »Die Ärzte operierten an vier Tischen Tag und Nacht, ohne des Ansturms Herr werden zu können.« Aus Platzmangel schlafen die Schwestern in den Krankenräumen, nur durch vorgespannte Decken von den Verwundeten getrennt. Ohnehin müssen sie mit drei Stunden Nachtruhe auskommen. Als sie bei einem Fliegerangriff in Deckung geht, zieht sich Piehler eine Knieverletzung zu. Das Bein bis zum Oberschenkel im Gips, wird sie zwei Wochen später ins Reichsgebiet zurückverlegt. Die Front folgt ihr bald nach.
Weltuntergang auf Wangerooge
In der Endphase des Krieges gibt die politische Führung das eigene Volk der Vernichtung preis. Ein ganzes Land befindet sich im freien Fall. Das Rote Kreuz ist eine der wenigen Organisationen, die selbst im Chaos noch halbwegs funktionieren und später den Übergang in die Besatzungszeit bewerkstelligen helfen. Freilich ist im »Kampfgebiet Heimat« kaum mehr Benzin für die Rettungswagen aufzutreiben, so dass vielerorts ausrangierte Fuhrwerke oder Möbelwagen zum Einsatz kommen. Skier und Bergstiefel mussten längst für die Front hergegeben werden, Blutkonserven bleiben Soldaten vorbehalten. Die Arbeit, die während dieser Wochen geleistet wird – eine bittere, riskante, nicht enden wollende Arbeit –, ist bis heute wenig dokumentiert. Zwei Beispiele sollen zumindest eine Ahnung von den Dimensionen des Zusammenbruchs geben. Während Köln und Aachen schon in Trümmern liegen, ist das idyllische Eifelstädtchen Schleiden bis Herbst 1944 von Kriegseinwirkungen verschont geblieben. Dann aber wird es durch die Ardennenoffensive zum Kampfgebiet. Die Höhen der Eifel werden geräumt, die Flüchtlingstrecks mischen sich mit zurückflutenden Truppen. Amerikanische Jagdflugzeuge nehmen sie unter Feuer, hinzu kommen deutsche V 1-Raketen, die, aus der Ferne abgeschossen, keinen Unterschied zwischen Freund und Feind kennen. Werner Rosen, zwanzig Jahre jung und Fahrer eines Sanitätskraftwagens, kommt während dieser Tage kaum zur Ruhe. Die Notrufe überschlagen sich. Auch die Rotkreuzfahrzeuge sind vor Attacken aus der Luft nicht sicher, doch »die Fahrer fürchteten weder Tod noch Teufel«. Oft aber können sie statt Erster Hilfe nur mehr letzte Hilfe leisten: »Acht blutjunge Schanzer der Hitlerjugend
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