Im Zeichen der Menschlichkeit
Dritten die Rivalität mit dem Westen. Spätestens, als 1951 bei den Weltfestspielen der Jugend in Ost-Berlin Zehntausende von Besuchern die Suppenküchen des West-Berliner Roten Kreuzes stürmen, beschließt die DDR , eine eigene Hilfsgesellschaft aufzubauen.
Zwei Männer prägen ihre Entwicklung: Werner Ludwig als Präsident und sein Stellvertreter Ludwig Mecklinger, der später Gesundheitsminister wird. Die beiden Militärärzte haben sich nach Kriegsende in Greifswald bewährt, als 30000 Flüchtlinge in die Stadt strömten, woraufhin es zu einem bedrohlichen Versorgungsnotstand kam und eine schwere Typhusepidemie ausbrach. Nun sollen sie das Rote Kreuz der DDR primär als landesweiten Gesundheitsdienst ins Werk setzen. Die Basis bilden zum einen die früheren Rotkreuzmitglieder, die sieben Jahre lang eine Art organisatorischer Obdachlosigkeit überdauert haben, zum anderen Zigtausende Gesundheitshelfer der Gewerkschaften und der Volkssolidarität. Eine Gleichschaltung wie beim Machtantritt der Nationalsozialisten ist nicht erforderlich, da die Einparteienherrschaft bereits etabliert ist und das Präsidium mit linientreuen Kadern bestückt werden kann. Es residiert in Dresden, weil in Ost-Berlin ein »Informationsabfluß nicht ausgeschlossen werden kann«. Den Mitarbeitern ist es untersagt, West-Berlin auch nur zu durchfahren.
Bei aller Rivalität sind die gemeinsamen Wurzeln der beiden Rotkreuzgesellschaften unverkennbar. Die Uniformen und Ehrenzeichen gleichen sich, Wasser- und Bergrettung gehören hüben wie drüben zu den klassischen Aufgaben, auch Krankenpflege und Zivilschutz entsprechen einander, und der Jugendverband in Zahna beteiligt sich genauso an der internationalen Albenaktion wie das Jugendrotkreuz in Neutraubling. Beide Gesellschaften sollen im Ernstfall die nun wiedererstehenden Armeen unterstützen. Im Westen hat das Rote Kreuz lange eine beherrschende Stellung im Krankentransport und Rettungsdienst, im Osten hält es sogar nahezu das Monopol darauf. Teilweise übernimmt es dort auch die Seerettung. Dafür gibt es in der DDR keine Schwesternschaften, die Sozialarbeit wird weitgehend anderen Organisationen übertragen und der Suchdienst eher stiefmütterlich behandelt. Etlichen Tausend haupt- und ehrenamtlichen Suchdienstmitarbeitern im Westen stehen gerade einmal fünfzehn in der DDR gegenüber. Die Menschen sollen, so die offizielle Auffassung, nach vorne blicken und nicht zurück, sie sollen, so Ludwig, »Schluß machen« mit dem Streit um tote Seelen. Alljährlich am 8. Mai zeigt sich ein kleiner Unterschied: Während Dunants Geburtstag in Westdeutschland, wie in den meisten Ländern, als Weltrotkreuztag begangen wird, ist dieses Datum in der DDR für den »Tag der Befreiung« reserviert.
Eine Besonderheit im Osten ist die starke Präsenz in den Kombinaten und landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Zwar obliegt dem Roten Kreuz auch in westlichen Großbetrieben vereinzelt der Gesundheitsschutz; insbesondere im Ruhrgebiet hat es seit den zwanziger Jahren Werksschwestern und Ambulanzen gestellt. Im Arbeiterund-Bauernstaat wird diese Tradition nun systematisch ausgebaut. Schwerpunkte sind Prestigeprojekte wie das »Kombinat J. W. Stalin« in Stalinstadt (später Eisenhüttenstadt) oder das Kokskombinat »Schwarze Pumpe« in der Niederlausitz. Hauptbetätigungsfeld ist der Arbeitsschutz; auch bei Sportveranstaltungen, Kundgebungen und Übungen mit den Werkskampfgruppen kommen Rotkreuzeinheiten zum Einsatz. Sie sollen dazu beitragen, »den Krankenstand zu senken, die Arbeitsproduktivität zu steigern und somit die Wirtschaftspläne zu erfüllen bzw. überzuerfüllen«. Für entsprechend vorbildliche Leistungen wird die Zentralwerkstatt Regis ausgezeichnet, ein Großbetrieb für Maschinenbau südlich von Leipzig. Bei 2500 Belegschaftsmitgliedern verfügt sie über vier Rotkreuzgruppen, die untereinander sogar Wettbewerbe veranstalten, wer die meisten Lose verkauft oder die beste Erste Hilfe leistet. An den Betriebsbegehungen nehmen stets auch Rotkreuzkräfte teil. Sie monieren, wenn ein Schweißer ohne Schutzbrille arbeitet, wenn ein Sanitätskasten fehlt, wenn ein Fluchtweg versperrt ist. Und wehe, ein Kumpel greift zur Flasche.
Zu den Pionieren der Rotkreuzarbeit im Osten zählen Horst und Helga Gäbler. Sie betreiben die Wetterwarte auf dem Fichtelberg, mit seinen 1214 Metern die höchste Erhebung der DDR. Schon 1950 wollten sie dort eine Unfallhilfsstelle einrichten, doch da galt
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