Im Zeichen der Menschlichkeit
stellen können? Doch statt Selbsterkenntnis und Selbstreinigung bestimmen Selbstgerechtigkeit und Selbstentlastung den Blick auf die Vergangenheit. Auch darin weiß sich das Rote Kreuz mit der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft einig. Hannah Arendt hat diese kollektive Verstocktheit treffend benannt – als »die Unfähigkeit, nachträglich dem zu begegnen, was Wirklichkeit war«.
Zum Symptom dieser Unfähigkeit gerät eine der befremdlichsten Institutionen der Nachkriegszeit, der sogenannte Warndienst West. Als in den sechziger Jahren in Frankreich und einigen anderen Ländern mutmaßlichen deutschen Kriegsverbrechern in Abwesenheit der Prozess gemacht wird, ermittelt der Suchdienst des DRK auf Geheiß des Auswärtigen Amtes deren Aufenthaltsort. Aber nicht, um sie ihrer Strafe zuzuführen, sondern um sie eben davor zu bewahren. In Tuchfühlung mit den Kameradschaften der Wehrmacht und der SS warnt der Dienst rund achthundert Beschuldigte vor Reisen in die betreffenden Länder. Für die Schweizer Weltwoche damals das »wohl trübste Kapitel deutscher Vergangenheitsbewältigung«. Es trägt nicht gerade zur Entlastung bei, dass Kurt Wagner, Leiter des gesamten Suchdienstes und stellvertretender Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes, einst Vizedirektor einer nationalsozialistischen Elitehochschule war.
Mit gutem Grund steht die zweite große Nachforschungseinrichtung in Deutschland, der Internationale Suchdienst in Bad Arolsen, unter ausländischer Leitung. In den ersten Jahren wurden dort überhaupt keine deutschen Mitarbeiter eingestellt, danach nur solche, deren Vergangenheit zuvor eingehend durchleuchtet worden war. Denn dieser Suchdienst ist mit den direkten Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen befasst: den Insassen der Konzentrationslager, den Zwangsarbeitern, den politisch Verfolgten, den verschleppten Kindern, den Abermillionen heimatlos gewordener Menschen. Zu Anfang wird der Suchdienst vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen betrieben, von 1955 bis 2012 steht er unter Federführung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Herzstück des Dienstes ist, ähnlich wie beim DRK-Suchdienst, eine riesige Begegnungskartei, in der die Anfragen von Suchenden und Gesuchten im Idealfall zusammentreffen. Auch hier füllen die Zettel die Kästen, die Kästen die Schränke, die Schränke die Hallen.
Anders als der stärker personenbezogene nationale Suchdienst trägt der internationale auch systematisch Quellenmaterial zusammen. Mit dreißig Millionen Dokumenten bildet er heute das weltgrößte Archiv über die Opfer des Nationalsozialismus. Hinzu kommt manch bewegendes Einzelstück: Die berühmte Liste von Oskar Schindler wird hier ebenso aufbewahrt wie 129 herrenlose Brieftaschen aus Dachau. Jeder Griff in einen der Karteikästen fördert unweigerlich ein Fallbeispiel der tragédie humaine zu Tage. Von Dobrinksi bis Dobrzen und von Janasauskas bis Janusch – siebzehn Millionen nie erzählter Geschichten aus einer unbarmherzigen Zeit. Jede verläuft anders, doch alle auf ihre Art unglücklich. Die Phalanx der Zettelkästen bezeugt, welch monumentales Chaos das »Dritte Reich« in Europa hinterlassen hat. Die Sisyphusarbeit der Suchdienste begleitet die Nachkriegsgeschichte als eine Art Hintergrundstrahlung bis zum heutigen Tag.
Neben Dokumenten werden in Bad Arolsen auch Effekten aufbewahrt – wie diese Brieftaschen, die Gefangenen bei der Einlieferung ins KZ abgenommen wurden.
© ITS
Eine Insel der Menschlichkeit
Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson drängt Ludwig Erhard Mitte der sechziger Jahre zu einem deutschen Engagement in Vietnam. Da an einen Einsatz der Bundeswehr damals nicht zu denken ist, bietet die Bundesregierung als Kompromiss die Entsendung eines Hospitalschiffs an. In den Jahren zuvor sind mehrere Seebäderschiffe so konstruiert worden, dass sie bei Bedarf zu Lazaretten umgerüstet werden können. Dafür haben die Reedereien hohe Zuschüsse des Verteidigungsministeriums erhalten. Als nun, 1966, unerwartet ein humanitärer Ernstfall ansteht, wird die Helgoland zum Hospitalschiff umgebaut. Tanzsalon und Andenkenkiosk weichen Operationssälen, Röntgenabteilung, Zahnarztzimmer und Labor. Die Kühltruhe für die Butterfahrten muss fortan als Leichenkammer dienen. Es stehen 200 Betten für Kranke und Rekonvaleszente zur Verfügung, außerdem 65 Kabinen für die Seeleute und das medizinische Personal.
Die Helgoland wird vom Verkehrsministerium gechartert und vom
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