Im Zeichen der Menschlichkeit
Patienten direkt durch die Balkontür in sein Zimmer. Die übrigen Personen werden im Laufe des Tages eingeliefert. Anita Carstens hat für jeden ein Osternest vorbereitet, »um sie zumindest für einen Moment auf andere Gedanken zu bringen«. Dann wird das ganze Gebäude mit Seilen abgesperrt und mit Warnschildern umstellt. Das Pflegepersonal erhält ebenfalls Schutzkleidung und eine vorbeugende Impfung. Gut drei Wochen bleiben die Betroffenen nun eingeschlossen, nur durch das Telefon mit der Außenwelt verbunden. Auf einem Tisch am Absperrseil liegen Verpflegung, Spiele, Bücher und Zigaretten für sie bereit. Im Gegenzug deponieren sie dort ihre Wäsche, die separat gereinigt wird, und ihre Abfälle, die im Garten des Klinikums vergraben werden. Gleichzeitig muss der normale Betrieb im Krankenhaus weiterlaufen, auch wenn es nun von Presse, Polizei, Verwaltungsbeamten und Schaulustigen belagert wird. Immer wieder ereignen sich unerwünschte Zwischenfälle: Ein Schuljunge, der sich aus Neugier in den gesperrten Trakt geschlichen hat, wird erst nach langem Versteckspiel gefunden und kurzerhand nachgeimpft. Die Katze, die eines Tages aus dem Keller tapst, kommt nicht so glimpflich davon – sie wird vom Tierarzt eingeschläfert.
Nach drei Wochen ist der Spuk vorbei. Keine der Kontaktpersonen ist erkrankt, auch der Patient wieder genesen. Zwei weitere Wochen lang sind die Mitarbeiter damit beschäftigt, alle Zimmer aufzuräumen und zu desinfizieren, Gardinen und Vorhänge wieder anzubringen, damit dort neue Patienten einziehen können. Als Rotkreuzschwester Anita für ihre organisatorische und menschliche Leistung später das Bundesverdienstkreuz erhält, widmet sie es den Frauen aus der Waschküche, die, schon über sechzig Jahre alt, vierzehn Stunden täglich an den Maschinen und Mangeln gestanden haben.
In Ausnahmesituationen versuchen Helfer alles nur Menschenmögliche – und manchmal sogar noch etwas mehr. So auch Anfang 1968, als die südliche Ostsee einen katastrophalen Wintereinbruch erlebt. Die Küste der DDR ist besonders betroffen. Am Morgen des 11. Januar warten die Bewohner der Dörfer vergeblich auf Milch und Zeitung. Über Nacht hat ein starker Nordwestwind eingesetzt, der sich im Laufe des Tages zum Orkan steigert. Die Region, sonst durch vergleichsweise milde Winter geprägt, verwandelt sich in eine Tiefkühllandschaft. Die Weichen der Eisenbahn frieren ein, die Häfen müssen schließen, auf den Kanälen rumoren die Eisbrecher. Meterhohe Schneedünen blockieren Straßen und Schienen, ganze Autokolonnen stecken fest. Binnen Stunden sind Hunderte von Gemeinden ohne Strom. Die Monteure rücken schließlich mit Pferdeschlitten aus, um zumindest ein paar Leitungen und Schaltkästen reparieren zu können.
Einige Ärzte kommen in Kettenfahrzeugen der Armee zum Hausbesuch, Hebammen versuchen es mit dem Traktor. Auf Rügen kämpft sich eine Gemeindeschwester vier Stunden lang zu Fuß durch die Schneemassen, um Beistand bei einer Entbindung zu leisten. Denselben Weg bewältigt sie sonst in einer halben Stunde. Vor Wismar bleibt ein Rettungswagen mit einer hochschwangeren Genossenschaftsbäuerin im Schnee stecken. Nachdem ein Notruf abgesetzt wurde, macht sich ein Panzer auf den Weg, doch selbst er fährt sich fest. Woraufhin zwei weitere Panzer ausrücken, diesmal vorsichtshalber mit einem Arzt an Bord. Sie liefern die Schwangere schließlich wohlbehalten in der Klinik ab.
Eine ähnliche Odyssee haben auch die beiden Krankentransporteure zu bestehen, die sich in Greifswald gemeinsam mit einem Arzt und einem Pfleger aufmachen, um in einem nahen Dorf einen Patienten abzuholen. Unvermittelt geraten sie in einen heftigen Schneesturm. Die Sicht ist auf wenige Meter beschränkt. Immer wieder müssen sie den Wagen freischaufeln. Um sich wenigstens notdürftig vor dem eisigen Wind zu schützen, vermummen sie sich mit Mullbinden und Dreieckstüchern. Nach sechs Stunden zeigt sich, dass alle Mühe umsonst war. Sie können weder vor noch zurück und müssen sich zu Fuß zum nächsten Dorf durchschlagen.
Drei Tage lang klingelt im Bezirksstab des DRK in Rostock unablässig das Telefon. Der Bahnhofsdienst schiebt im ganzen Land Überstunden, Helfer richten zahlreiche Notunterkünfte ein, und der Krankentransportdienst operiert bis über die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit hinaus. In den Leitmedien der DDR aber wird der Beitrag, den das Rote Kreuz in dieser Krisensituation leistet, kaum erwähnt. Hier dominieren die
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