Im Zeichen der Menschlichkeit
Gedränges und der hohen Temperaturen haben viele Zuschauer Kreislaufprobleme, einige erleiden einen Hitzschlag. »Die Trage war permanent unterwegs«, erinnert sich Reusche. Insgesamt leistet das Rote Kreuz fast 900-mal Erste Hilfe, achtzehn Krankenwagen kommen zum Einsatz. Für die Bewohner der ummauerten Stadt wird der amerikanische Präsident zu einer fast messianischen Gestalt; allein vor dem Schöneberger Rathaus versammeln sich eine halbe Million Menschen. Der Jubel, mit dem Kennedy empfangen wird, lässt die Tiefe der Ängste erahnen, die mit der neuen Eskalationsstufe des Kalten Krieges einhergehen. Einige Monate später durchbrechen sowjetische Düsenjäger dicht über West-Berlin fortwährend die Schallmauer. Ganze Stadtviertel zucken zusammen, Fenster und Türen schlagen zu. In durchaus erregtem Ton bittet der West-Berliner Landesverband die Ost-Berliner Kollegen, auf »die zuständigen Stellen« einzuwirken: »Diese explosionsartigen Geräusche sind dazu geeignet, alte Menschen und auch Kinder erheblich zu belästigen. Bei nicht wenigen Krankheiten führt der Schreck zu akuten Anfällen. Säuglinge und Kleinkinder werden aus dem Schlaf gerissen.« Eine bezeichnende Episode aus den Tagen des Kalten Krieges – das Rote Kreuz legt gegen die Rote Armee Protest ein. Eine Antwort erfolgt nicht, doch immer dann, wenn sich in den Folgejahren der Deutsche Bundestag im Reichstag versammelt, donnern die Jäger wieder über den Tiergarten, um die Abgeordneten und die Bevölkerung einzuschüchtern.
Nachdem die Welt kurz zuvor während der Kubakrise nur knapp an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt ist, setzt sich das »Gleichgewicht des Schreckens« als Dauerzustand fest. Der Klub der Atommächte wächst, immer neue, immer verheerendere Waffen werden auf beiden Seiten erprobt. Die Möglichkeit eines Atomschlags scheint realer denn je; beide Seiten haben Angst. In West wie Ost kommt dem Roten Kreuz beim Durchspielen der entsprechenden Szenarien eine wichtige Rolle zu. In der DDR laufen die Vorbereitungen zunächst unter dem Titel »sanitäre Verteidigung«, in der BRD als »Hausluftschutz«, später dann unter »Zivilverteidigung« beziehungsweise »Katastrophenschutz«. Hüben wie drüben schaffen die Orts- und Kreisorganisationen Geigerzähler und Strahlenschutzanzüge an und schulen spezielle Einheiten für den Ernstfall. Die Lehrmaterialien tragen Titel wie Kurze Charakteristik der Kernwaffen oder Die Kunst, zu überleben . Sie zeigen die Tendenz, die Folgen einer Atomexplosion zu verharmlosen und als beherrschbar anzusehen. So geht ein DDR -Handbuch aus dem Jahr 1965 von einer tödlichen Wirkung in einem Umkreis von anderthalb bis drei Kilometern aus. Im Radius von 150 bis 500 Metern würden Gebäude total zerstört, zwischen vier und zehn Kilometern dann nur mehr leicht. Diesen Kalkulationen mit der »Strahlenrechnungsscheibe« liegen »Kaliber« zwischen fünf und hundert Kilotonnen zugrunde. Die größten Nuklearbomben jener Zeit haben aber bereits eine Sprengkraft von sechzig Megatonnen.
Die Atomschutzprogramme sollen die Bevölkerung möglichst wenig beunruhigen. Vor allem im Westen finden sie daher als »Arbeit in der Stille« statt, in die nur »Fachkreise« eingeweiht werden. Die DDR behandelt das Thema offensiver. Da der Warschauer Pakt bei Kernwaffen unterlegen ist, wäre ein rhetorischer Schlagabtausch durchaus erwünscht. In der NATO , so heißt es, wären »des Teufels Generale« am Werk, sie beschritten »den Weg ins Nichts«. Auch im weltweiten Rotkreuzdiskurs spielt das nukleare Wettrüsten zu dieser Zeit eine bedeutende Rolle. Das DRK der DDR bringt sich dort aktiv ein. Überhaupt nutzt der junge Staat die internationale Rotkreuzarbeit, um außenpolitische Legitimation und Erfahrung zu gewinnen.
Im Rahmen des Zivilschutzes erfährt auch das Blutspendewesen in beiden deutschen Teilstaaten einen enormen Aufschwung. Ohne eine gut funktionierende Versorgung mit Blutkonserven hätte kein Bevölkerungsschutz einen Sinn. Nun werden flächendeckend die nötigen Einrichtungen geschaffen, und in der Gesellschaft soll eine dauerhafte Bereitschaft zur Blutspende geweckt werden. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist die zentrale Blutbank des Bayerischen Roten Kreuzes, die Anfang der sechziger Jahre im unterfränkischen Wiesentheid entsteht – buchstäblich weitab vom Schuss. Im Falle eines Atomschlags auf Nürnberg oder München sollte die Infrastruktur für Blutkonserven nicht gleich mit zerstört
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