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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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staatlichen Organe und militärische Verbände: »Kampfgruppen in Kompaniestärke, Seite an Seite mit Sowjetsoldaten«, hätten die Winterschlacht entschieden, heißt es. Der heroische Kampf gegen die Naturgewalten wird zur Legitimation der Machthaber instrumentalisiert. Doch auch die rotkreuzeigenen Medien können dem Drang zur Propaganda nicht widerstehen: »In jenen Januartagen bewährte sich unsere sozialistische Menschengemeinschaft und handelte jedes Rotkreuzmitglied als Staatsbürger der DDR.« Als ob es einer ideologischen Rechtfertigung bedürfte, einander in der Not zur Seite zu stehen.
    Manchmal müssen die Helfer des Roten Kreuzes auch in Friedenszeiten Geschehnisse bewältigen, wie man sie sonst nur aus Kriegen kennt, mit grausigen Verwüstungen und massenhaftem Tod. In einer gespenstischen Serie ereignen sich 1971 in Westdeutschland innerhalb eines halben Jahres vier schwere Zugunglücke. Besonders tragisch endet jenes bei Radevormwald im Bergischen Land. Auf eingleisiger Strecke rammt ein Güterzug einen Schienenbus mit sechzig Schülern, die sich auf der Heimreise von einer Klassenfahrt befinden. Welche Signale gegeben oder übersehen worden sind, ist nie geklärt worden. Doch kurioserweise werden die Rettungskräfte alarmiert, bevor der Zusammenstoß erfolgt: Als der Güterzug durch den Bahnhof donnert, weiß der Fahrdienstleiter bereits, dass das Verhängnis nicht aufzuhalten ist. Diese eine Minute Vorsprung erweist sich als Segen, denn dank des raschen Eintreffens der Retter überleben gut zwanzig Schwerverletzte. 46 Menschen kommen ums Leben, die meisten davon Kinder.
    Als die am Bahnhof wartenden Eltern die Schreckensnachricht erfahren, eilen sie verzweifelt zur Unglücksstelle. Mit als Erste treffen Bereitschaftsführer Gerd Höbler und sein Sohn Bernd dort ein. »Wir gingen gerade von einem Erste-Hilfe-Kurs nach Hause, da sahen wir die Feuerwehr in heller Aufregung. Wir alarmierten noch ein paar Mann und fuhren sofort zur Unfallstelle«, rekapituliert der Vater. Von der Straße führt eine steile, nasse Böschung hinunter zum Bahndamm und dann weiter hinab bis zur Wupper. »Anfangs war alles noch dunkel, und das war wohl auch besser so«, erinnert sich der Sohn. Die meisten Opfer sind infolge von Genickbruch oder schwerer Kopfverletzungen zu Tode gekommen. Der fünfzehnjährige Bereitschaftsanwärter besucht dieselbe Schule wie sie; einige davon sind seine Freunde. »Mit dem Sohn des Platzwarts habe ich jeden Tag Fußball gespielt. Als wir ihn hochtrugen, fehlte ihm der halbe Schädel.«
    Insgesamt kommen 160 Rotkreuzhelfer zum Einsatz. Sie fahren Verletzte in die umliegenden Krankenhäuser, suchen den Hang ab, packen bei den Bergungsarbeiten mit an und verpflegen die Hilfskräfte. Nachdem die Opfer in der Turnhalle aufgebahrt worden sind, betreuen die Helfer die Eltern, die ihre Kinder identifizieren müssen, und sie übernehmen die Totenwache. »Das war eigentlich schlimmer als unten am Wrack«, meint Gerd Höbler. »Da kam ein Ehepaar aus unserer Straße und suchte seine beiden Töchter – und wir wussten, sie sind tot.«
    Tagelang steht die ganze Stadt unter Schock. Zur Beerdigung eine Woche später finden sich dann über zehntausend Menschen ein. Bernd Höbler trägt gemeinsam mit anderen Rotkreuzkameraden den Sarg seines Schulfreundes zu Grabe. Die Bereitschaft hat ein Notzelt aufgebaut, in dem an die vierzig Trauergäste behandelt werden müssen, zumeist Angehörige mit Kreislaufproblemen. »Wir haben getan, was wir konnten«, sagt Vater Gerd mit düsterer Stimme, während er in Gedanken noch einmal durch den zerfetzten Schienenbus geht. Beiden Männern ist anzumerken, dass die Sinnlosigkeit und Endgültigkeit dieser Katastrophe bis heute auf ihnen lastet.
    Das Thema Eisenbahn und Rotes Kreuz hat eine lange Geschichte und viele Facetten – die meisten davon sind erfreulicher. Zu den klassischen Arbeitsfeldern zählt in West wie Ost der Bahnhofsdienst. So wie viele andere Rotkreuzaufgaben hat er sich aus der ursprünglichen Kriegspraxis ins Zivilleben hineinentwickelt. Am Bahnsteig 1 des Frankfurter Hauptbahnhofs kümmert sich über dreißig Jahre hinweg eine Schwester mit dem wunderbaren Namen Cilly Sonnenstuhl um das Wohl der Reisenden. Angefangen hat sie in der desolaten Zeit unmittelbar nach Ende des Krieges, als die Dampfschwaden der Lokomotiven die gläsernen Hallen füllten: »Da kam einer zu uns, der war mager und verhärmt wie die anderen auch. Erst als er seine Personalien

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