Im Zeichen der Menschlichkeit
eintrug, sahen wir, daß es der Schauspieler Hans Söhnker war.« Während der Zeit des Wirtschaftswunders hat Sonnenstuhl die Elektrifizierung der Züge miterlebt, in den siebziger Jahren wird der Bahnhof in den Untergrund hinein ausgebaut.
Die Unfallhilfsstation ist in drei Schichten mit je zwei Schwestern besetzt; bei Bedarf rufen sie noch den Bahnarzt oder die Rettungswache. Wenn ein Passant angeheitert die Treppe herunterfällt, wenn zwei Streithähne nach einer Prügelei verarztet werden müssen, wenn ein Kind seine Finger in der Zugtür einklemmt – Schwester Cilly soll es richten. Durch ihre Tracht unübersehbar, eskortiert sie Schulklassen von Bahnsteig 3 zum Bahnsteig 18 und begleitet Kriegsversehrte vom Zug zur Straßenbahn. Sie hilft einem Reisenden, dem beim Nickerchen im Wartesaal die Schuhe abhandengekommen sind, und tröstet Kinder, die ihre Eltern im Gewühl verloren haben. Mit einem Wort: Schwester Cilly ist der gute Geist des Hauptbahnhofs. Für einen kurzen, manchmal auch kritischen Moment begegnet sie Menschen auf ihrer Reise durchs Leben. Die meisten wird sie niemals wiedersehen. Doch ab und zu schicken ihr dankbare Reisende hinterher Postkarten, dass sie gut angekommen sind.
Feuer einstellen!
In seltenen Fällen kann auch die Arbeit als Rotkreuzhelfer in Deutschland gefährlich sein. Am Nachmittag des 4. August 1971 bringen zwei Bankräuber in München achtzehn Menschen in ihre Gewalt. Ein Novum in der deutschen Kriminalgeschichte – der erste Überfall mit Geiselnahme. Er spielt sich unter den Augen Tausender von Schaulustigen ab. Sogar Franz Josef Strauß wird zufällig Zeuge, da er im gegenüberliegenden Restaurant gerade zu Abend speist. Hans Steinkohl ist dagegen in offizieller Funktion zur Stelle – als Münchens zweiter Bürgermeister wie auch als leitender Arzt des Roten Kreuzes. Acht Rettungsfahrzeuge und ein Hubschrauber stehen bereit. Nach einem siebenstündigen Nervenkrieg besteigt einer der Räuber das Fluchtfahrzeug – mit zwei Millionen Mark Beute und einer jungen Kassiererin als Geisel. Erst kurz bevor der Wagen startet, eröffnet die Polizei das Feuer. Salven aus Maschinenpistolen durchschlagen das Blech. Feuerpause. Reflexartig rennt Steinkohl los. Er weiß nicht, ob der Täter noch lebt, er weiß auch nicht, wie es um die Geisel steht. Er achtet weder auf die Menschenmenge noch auf die Scharfschützen und schon gar nicht auf die Journalisten. Er reißt die Beifahrertür auf, zieht die Frau heraus und schleppt sie zum Notarztwagen. Sie stirbt wenig später im Krankenhaus. Der Täter erliegt ebenfalls seinen Verletzungen, sein Komplize wird bei der Erstürmung der Bank festgenommen.
Steinkohls Eingreifen bleibt allen im Gedächtnis. War es tapfer oder tollkühn? Der Chirurg kann selbst nicht genau erklären, was in ihm vorgegangen ist. »Aber als Rotkreuzmann hat man einen inneren Zugang zu einer solchen Situation und versucht eben zu helfen.« Noch mit einer zweiten Initiative hat Steinkohl dann übrigens Schlagzeilen gemacht: als einer der Väter des Organspendeausweises.
Die siebziger Jahre sind eine seltsam widersprüchliche Zeit. Auf der einen Seite nehmen Kriminalität und Terrorismus bislang unbekannte Dimensionen an. Auf der anderen Seite blühen die Utopien von Subkultur, Alternativbewegung und Esoterik. Beim Thema Drogen berühren sich beide Bereiche. Den Konsumenten erscheinen sie als Verheißung, als ein Mittel der Befreiung oder auch nur der Flucht aus verhassten Zwängen. Für die Gesellschaft dagegen bedeuten sie ein gravierendes gesundheits- und sozialpolitisches Problem. Das sich damals kurz, aber markant auch in der Arbeit des Roten Kreuzes spiegelt. Aus einer Beratungsstelle in West-Berlin geht 1972 eine der ersten Drogenkliniken in Deutschland hervor. Kurioserweise trägt sie den Namen »Wilhelm Tell«, was dem Stil der Klientel wohl kaum entspricht. Oder sollte der Goldene Schuss gemeint sein? Die Ausstattung jedenfalls zeigt den Zeitgeist in Reinkultur: Knautschsessel und Sofas in poppigen Farben, die Wände von den Insassen selbst bemalt. Sie leben in einer Wohngemeinschaft mit ihren Betreuern. Alle versprechen sich viel von dem Projekt – schon deshalb, weil eine Institution wie das Rote Kreuz, die für Toleranz und Verschwiegenheit steht, sowohl bei den Suchtkranken als auch bei deren Angehörigen Vertrauen wecken sollte. Und so nimmt das Experiment seinen Lauf, mit hohen Zuschüssen, endlosen Diskussionen – und einem ernüchternden Ende.
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