Im Zeichen der Menschlichkeit
Die Patienten demolieren nicht nur die Einrichtung, sondern bringen auch die Therapeuten zur Verzweiflung. Nach wenigen Monaten schon ist »Wilhelm Tell« Geschichte.
Als ein Symptom der Zeit nimmt das Thema Drogen damals auch im Jugendrotkreuz breiten Raum ein. Das Generalsekretariat in Bonn bietet Broschüren sowie mehrere Kurzspielfilme über die Wirkung von Haschisch und LSD an. Man setzt auf Aufklärung und Dialog und ermuntert die Mitglieder, auf Gefährdete und Abhängige zuzugehen. »Das Image des Roten Kreuzes wird nicht darunter leiden, wenn bärtige und salopp gekleidete junge Menschen unter seinem Zeichen zusammenkommen, solange sie es ernst meinen.«
In der DDR stellen Rauschgifte ein allenfalls marginales Problem dar, konventionellere Drogen aber sehr wohl. Die niedrige Lebenserwartung und eine der weltweit höchsten Suizidraten spiegeln die Nöte der Gesellschaft. Doch obwohl das Rote Kreuz als Hauptorgan der medizinischen Volksaufklärung segensreich wirkt – diese Problematik spricht es kaum je direkt an. Schon die Symptome sind politisch brisant, die Ergründung der Ursachen tabu.
Stabile Seitenlage
Die Ära Honecker ist durch allmähliche Normalisierung nach außen und durch verschärften Druck nach innen gekennzeichnet. Unter Berufung auf das humanistische Anliegen des Roten Kreuzes startet das Ost-Präsidium 1973 nach dem Militärputsch in Chile eine Kampagne gegen das Vorgehen der Junta und fordert »die Wiederherstellung der Menschenrechte und die Freilassung der Inhaftierten«. Den Opfern der Gewaltherrschaft im eigenen Land oder gar in der Sowjetunion aber widmet es über fast vierzig Jahre hinweg nicht ein Wort.
In vielen Bereichen kontaminiert das Diktat der Politik die Rotkreuzarbeit. Dass die Nachwuchsausbildung im Osten der im Westen quantitativ wie qualitativ überlegen war, darüber herrscht heute in Rotkreuzkreisen weitgehende Einigkeit. Damals hätte man das nie eingeräumt. Bereits die Schüler werden systematisch als »junge Sanitäter« ausgebildet. Susanne Pohl kommt als Elfjährige in Bitterfeld mit einer solchen Arbeitsgemeinschaft an ihrer Schule in Kontakt. »Da konnte man etwas Nützliches lernen, und junge Burschen waren auch da, das hat uns interessiert.« Einmal die Woche erhalten sie Unterricht in Erster Hilfe und nehmen darin auch begeistert an Wettkämpfen bis hin zur Bezirksmeisterschaft teil. »Es war eine Art von Initiation, man erwarb Kenntnisse und Selbstvertrauen, das war durchaus prägend.«
Für die Beteiligten stehen die Hilfsbereitschaft und der weltanschaulich neutrale Rotkreuzgeist im Vordergrund. Dennoch geht die Gesundheitsausbildung, wie alle staatliche Jugendarbeit, mit ideologischer Beeinflussung und bei den männlichen Jugendlichen auch mit paramilitärischem Drill einher. Je nach Alter sind die »jungen Sanitäter« automatisch Mitglieder der Pionierorganisation »Ernst Thälmann« oder der FDJ und tragen deren Uniform, ergänzt durch ihr eigenes Abzeichen. Ähnlich wie im »Dritten Reich« wird die für den langfristigen Machterhalt als besonders wichtig angesehene Jugendarbeit von der Partei monopolisiert. 1973 unterzeichnen Volksbildungsministerin Margot Honecker und Rotkreuzpräsident Werner Ludwig eine »Vereinbarung zur Durchführung der vormilitärischen Ausbildung und der Sanitätsausbildung an höheren Schulen«. Hierzu werden zwölftägige Lehrgänge während der Sommerferien ins Leben gerufen. Ziel ist es, »die Schüler zum unversöhnlichen Haß gegen die imperialistischen Feinde des Friedens und Sozialismus zu erziehen«.
»Seid bereit«: Im Rahmen des Unterrichts für »Junge Sanitäter« im DRK der DDR folgen diese Thälmannpioniere gespannt einer Filmvorführung.
© DRK
Die Lektüre derartigen Schriftguts bereitet wahrlich kein Vergnügen, von einzelnen stilistischen Glanzleistungen abgesehen. Wer vermag schon einen sechsfachen Genitiv zu übertrumpfen: »Beschluß über die Dauer der Berufung der Vorsitzenden der Kommissionen des Präsidiums des DRK der DDR «. Insgesamt kontrastiert der Formalismus der Funktionäre mit dem Pragmatismus der Basis und die relative Abhängigkeit der hauptamtlichen Mitarbeiter von Partei und Staat mit der relativen Freiheit der ehrenamtlichen Helfer. Spricht man mit altgedienten ostdeutschen Rotkreuzkräften, versichern sie stets, dass die ideologische Agitation in der täglichen Arbeit keine große Rolle gespielt hätte. »Dann hätten die Leute auch gleich in die Kampfgruppen gehen
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