Im Zeichen der Menschlichkeit
und zerschlissenen Jeans, wie es sich damals gehörte.« Er erlebt diese Zeit als »einen Aufbruch zu neuen Ufern«. Ungewohnte Themen und Arbeitsfelder eröffnen sich, unkonventionelle Methoden werden ausprobiert. Darunter auch ein vom Roten Kreuz kaum je genutztes Medium: die Kunst. Zusammen mit renommierten Museen und mehreren Dutzend Künstlern initiiert Döveling zwei große Ausstellungen über »Heimatlose« und »Die Macht des Alters«. Die Resonanz ist groß, wenn es auch »wilde Diskussionen gab, wieweit das DRK berufen sei, mit Mitteln der Kunst zu operieren. Doch so konnten wir einem breiten Publikum die Thematik der sozialen Arbeit nahebringen.« Auch die von ihm mitangeregte Migrationsarbeit und die interkulturelle Öffnung des Vereins stoßen anfangs auf beträchtlichen Widerstand: »Wir sind ein deutsches Rotes Kreuz, hieß es, was haben wir mit Ausländern zu tun? Unser Einsatz für Flüchtlinge, Asylbewerber und ausländische Arbeitnehmer wurde gar unter Verweis auf die Neutralität des Roten Kreuzes in Frage gestellt. Migrationsbewegungen haben ja oft einen politischen Hintergrund, und man meinte, sich da heraushalten zu müssen.« Inzwischen aber bilden Integrationsangebote ein etabliertes Arbeitsfeld des DRK .
Die nachhaltigsten Veränderungen erfährt die Rotkreuzarbeit in den siebziger und achtziger Jahren allerdings nicht durch politische Prozesse, sondern durch Fortschritte in der Medizin, im Verkehrswesen und in der Kommunikationstechnik. Rettungsdienst, Berg- und Wasserwacht setzen immer häufiger Hubschrauber ein. Erstaunlich schnell gewöhnt man sich daran, dass ein Nothelfer herbeischwebt wie der Vogel Roch aus Tausendundeiner Nacht , seine kostbare Fracht aufnimmt und im Krankenhaus fast schon auf dem Operationstisch ablegt. Hinzu kommt der DRK -Flugdienst, der weltweit nach schweren Unfällen, bei lebensbedrohlichen Erkrankungen oder unzureichender medizinischer Versorgung hilft. Im Rettungswesen und in Krankenhäusern werden nun auch Zivildienstleistende eingesetzt, was eine günstigere Kalkulation ermöglicht. Entsprechend stärker wird die Konkurrenz, immer mehr Anbieter drängen auf den Markt, in der Notfallrettung, im Krankentransport oder bei der Betreuung von Großveranstaltungen.
Gruppenbild mit Jesus: Bei den Oberammergauer Passionsspielen betreuen Helferinnen des Roten Kreuzes viele Tausend Besucher am Tag, so auch 1970.
© O. Margraf
Eine aber ist seit 1930 fest in der Hand des Roten Kreuzes: die Passionsspiele in Oberammergau. Das uralte, nur alle zehn Jahre stattfindende Mysterientheater scheint der Zeit nicht unterworfen. Obwohl es 1970, auf dem Höhepunkt der 68er-Bewegung und der Hippiezeit, denkbar anachronistisch anmutet, strömen so viele Besucher herbei wie in keinem Jahr zuvor oder danach: über eine halbe Million. Olga Margraf ist als örtliche Bereitschaftshelferin dabei. Jahrgang 1920, arbeitete sie mit achtzehn Jahren im ersten Kindergarten des Dorfes. Noch heute sprechen alte Männer sie auf der Straße mit »Griaß di, Tant’ Olga« an. Seit 1930 hat sie kein Passionsspiel versäumt. Sie kann die Namen der Christusdarsteller lückenlos herunterbeten, und bei Bedarf gäbe sie eine verlässliche Souffleuse ab, hat sie doch die Texte der meisten Figuren im Kopf. Auch 1970 leistet sie über vier Monate hinweg mehrmals die Woche Dienst in der Freilichtbühne. Sechs Stunden zieht sich das Spektakel hin; alle zwei Stunden lösen die Helferinnen einander ab. Margraf postiert sich an einem der Treppenaufgänge zu den Tribünen. Während alle das Geschehen auf der Bühne verfolgen, hat sie das Publikum im Blick. Wenn irgendwo Unruhe aufkommt, eilt sie herbei, die Spucktüte griffbereit. Viele Zuschauer kippen einfach um: die Aufregung, der Föhn und dann noch die Geißelungen auf der Bühne. Einmal stirbt ihr ein Kollabierter unter den Händen weg; er wird im Aufenthaltsraum der männlichen Kollegen aufgebahrt. Im Großen und Ganzen aber, erinnert sie sich, seien die Spiele »harmonisch« verlaufen. Nur über die Schwalb Resl mokiert sie sich noch heute. Die hätte sie nämlich nach zwei Stunden ablösen sollen. Stattdessen habe sie bei den Sanitätern gesessen und geraucht.
»Es war nicht alles leicht, aber im Nachhinein war es von Wert.« Gedankenverloren kramt die rüstige Dame mit dem schlohweißen Haar in der Schachtel mit ihren Ehrenzeichen. »Wann s’ an silbern Rand g’ habt hat, wars scho a Beförderung.« Das letzte Ehrenzeichen hat sie erst vor
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