Im Zeichen der Menschlichkeit
nicht näher befassen, heißt es. Aber Moynier lässt nicht locker und setzt das Thema bald erneut auf die Tagesordnung: Auf einem im Herbst stattfindenden Wohltätigkeitskongress in Berlin soll die Gesellschaft die Frage einer besseren Versorgung verwundeter Soldaten mit einem eigenen Beitrag zu Gehör bringen.
Die Runde diskutiert lebhaft. Aufgrund seiner Erfahrungen in Norditalien bestätigt Louis Appia die Relevanz des Themas. Der Chirurg Théodore Maunoir, mit dem ihn eine kollegiale Freundschaft verbindet, macht sich ebenfalls dafür stark. General Dufour äußert Bedenken hinsichtlich der Kooperationsbereitschaft der Militärs. Dunant streut ein paar Erläuterungen ein, Moynier erneuert sein Plädoyer. Am Ende werden, wie es bei solchen Versammlungen zu gehen pflegt, diejenigen, die sich zu Wort gemeldet haben, mit der weiteren Ausarbeitung des Beitrags betraut.
Und so kommen diese fünf Männer am 17. Februar 1863 erneut zusammen. Ein Kaufmann, ein Jurist, ein Militär und zwei Ärzte – eine typische Besetzung für die Gründerjahre des Roten Kreuzes. Sie wollen eine Agenda für den im September stattfindenden Kongress erarbeiten und nehmen sich zudem vor, im Oktober eine eigene kleinere Konferenz in Genf einzuberufen. Fortan werden sie als »ständiges internationales Komitee für die Versorgung der Kriegsverwundeten« firmieren. Ständig? Sollen sie nicht lediglich einen Diskussionsbeitrag vorbereiten? International? Sind sie nicht allesamt Genfer Bürger?
»Die glorreichen Fünf«: Louis Appia, Henry Dunant, Gustave Moynier, Guillaume-Henri Dufour und Théodore Maunoir
© DRK
Doch der Name bezeichnet nicht den Ausgangspunkt, sondern das Ziel. Maunoir dringt darauf, »daß eine Agitation beginnen müsse, um unserem Standpunkt bei den Souveränen wie bei den Volksmassen zur Anerkennung zu verhelfen«. Henry Dunant, der als Sekretär fungieren soll, entwirft bereits in dieser ersten Sitzung ein Programm, das zentrale Elemente künftiger Rotkreuzarbeit verblüffend konkret benennt: Schaffung freiwilliger Hilfsgesellschaften, bessere Transportmittel, bessere medizinische Versorgung, wissenschaftliche Innovationen, Versendung von Hilfsmitteln aller Art. Das Modell solle auch auf den Krieg zur See ausgedehnt werden und auf innerstaatliche Konflikte. Eine Erweiterung auf zivile Aufgaben, etwa im Fall von Naturkatastrophen, sei ebenfalls vorstellbar. Selbst »ein richtiges Museum« denkt Dunant bereits voraus – bevor dieses Hilfswerk auch nur ansatzweise besteht. Besonders am Herzen liegt ihm der Schutz »jeder offiziellen oder inoffiziellen Person, die sich dem Dienst für die Kriegsopfer widmet« – Ärzte, Apotheker, Krankenschwestern. Daraus ergibt sich die Frage, wie man diese Helfer sichtbar kennzeichnen könne. Moynier und Dufour halten eine dezidierte Neutralität des militärischen Sanitätspersonals für nicht durchsetzbar; schon die der freiwilligen Helfer dürfte schwer genug zu erreichen sein.
Dank Dufours Pragmatismus fallen die zehn Punkte des geplanten »Konkordats« kurz und bündig aus. Jedes Land soll eine nationale Hilfsorganisation aufbauen, welche die militärischen Sanitätsdienste ergänzt. Diese Vereine sollen sich in Friedenszeiten weiterbilden und untereinander austauschen, wobei das Genfer Komitee als Schaltzentrale fungieren wird. Im Kriegsfall sollen sie straff organisierte Hilfseinheiten aufbieten, die dem Befehl der Armee unterstellt werden. Auch wenn die meisten Punkte später noch spezifiziert werden – die Grundstruktur des Roten Kreuzes ist damit festgelegt.
Ohne die Unterstützung eines sechsten Mannes aber wären die fünf Gründer kaum zum Ziel gelangt: Johan Basting. Der Leibarzt des holländischen Königs übersetzt die Erinnerung ins Niederländische und wird nun zur wichtigsten Stütze bei den Vorbereitungen für Berlin. Die geplante Wohltätigkeitskonferenz, zu der auch Rudolf Virchow und Florence Nightingale ihr Kommen angekündigt haben, ist mittlerweile in eine Mammutveranstaltung integriert worden: den 5. Internationalen Statistischen Kongress. 558 Teilnehmer haben sich angemeldet. Statistik in der Wohlfahrt – das mag auf den ersten Blick befremdlich wirken. Doch damals wird diese neue abstrakte Disziplin nahezu als Zaubermittel angesehen, mit dessen Hilfe Politik und Verwaltung auf die sozialen Umschichtungen und die rapide Bevölkerungszunahme reagieren können.
Auf nach Berlin
Auch Kriege haben eine starke statistische Komponente. Die Zahl der
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