Im Zeichen der Menschlichkeit
Waffen, der Soldaten, der Toten und Verwundeten fehlt in keiner Darstellung. Auf dem Berliner Kongress widmet sich eine ganze Sektion dem Militärwesen. Er tagt im Preußischen Herrenhaus, dem heutigen Sitz des Bundesrats. In ihrem Hotel unweit der Charité feilen Basting und Dunant bis zum letzten Moment an der Präsentation, die der Holländer ins Deutsche überträgt. Als sie dann in einer offenen Droschke zum Herrenhaus fahren, weht ein Windstoß die Papiere beinahe in die Spree. Der als Referent angekündigte Basting stellt seine Redezeit dem Gast aus Genf zur Verfügung. Diesen ungewöhnlichen Schritt – was hat ein Sanitätsverein mit Statistik zu tun? – rechtfertigt er mit dem Argument, dass die Pflege verwundeter Soldaten die Lebensdauer des Einzelnen erhöhe und damit auch das Durchschnittsalter der Nation. Ihr Vortrag wird mit pflichtschuldigem Beifall aufgenommen, und bei der abschließenden Plenumssitzung wünscht der Kongress ihrer Initiative noch »gutes Gelingen«. Dunant jedoch nimmt die Floskeln für bare Münze und meldet dem Komitee, ihre Vorschläge hätten »breiteste Zustimmung« gefunden.
Die Diskussionen mit Militärärzten aus halb Europa bestärken ihn und Basting darin, dass die Unverletzlichkeit der Sanitätskräfte eine Kernfrage darstellt. Über Nacht lassen sie fünfhundert Rundschreiben drucken, die drei Ergänzungen zur bereits ausgesandten Agenda für die »kleine Konferenz« in Genf beinhalten. Insbesondere den Vorschlag, sowohl das militärische wie das freiwillige Sanitätspersonal von den Kämpfen auszuklammern. Das Berliner Rotkreuzmuseum hält bis heute ein Exemplar dieses Schreibens in Ehren. Denn wie Dunant im Rückblick attestiert, ist »das segensreiche Werk des Roten Kreuzes nächst Genf in Berlin gegründet worden«. Hier hat die entscheidende Weichenstellung stattgefunden. Allerdings nicht auf dem Kongress, sondern, wie oft bei derartigen Veranstaltungen, im Rahmenprogramm.
Über Basting lernt Dunant den Generalarzt Gottfried Loeffler kennen sowie Carl Böger, den Leibarzt des früheren Königs. Die beiden legen Kriegsminister Albrecht Graf von Roon das druckfrische Rundschreiben vor; er empfängt Dunant daraufhin begeistert und versichert ihn allerhöchster Gunst. Tatsächlich wünscht wenig später Kronprinz Friedrich Wilhelm, der Autor der Erinnerung an Solferino möge ihm vorgestellt werde. Und schließlich erkundigt sich auch der König – der spätere Kaiser Wilhelm I . – sehr genau nach den Zielen des Komitees. Wie hat Dunant das geschafft? Er weiß es zunächst selbst nicht. Zwar hat er sein Buch an so manches Fürstenhaus geschickt. Doch in den dortigen Hofhaltungen gehen täglich Bücher ein, deren Verfasser sich ein geneigtes Wort ihres Herrschers erhoffen. Wie aber dringt ein Buch wirklich bis zum König vor? So sie gern liest: über die Königin. Wilhelms Gattin Augusta entstammt dem Großherzogtum von Sachsen-Weimar-Eisenach. Durch ihre Mutter ist sie vom liberalen Geist und den musischen Idealen der Weimarer Klassik geprägt. Und sie hatte einen Genfer Hauslehrer, der mit einem Onkel Dunants befreundet war. Eines Tages habe sie das Buch auf einem Tisch in ihren Gemächern vorgefunden. »Ich weiß gar nicht, wer es dort hingelegt hat; ich meine, Pourtalès. Ich war so ergriffen, daß ich es dem König zu lesen gab. Als er es mir zurückgab, sagte er: ›Wir müssen dafür sorgen, dass diese Idee Gestalt annimmt.‹« Pourtalès? Der Name klingt hugenottisch. Mehrere Mitglieder dieser Familie verkehren damals bei Hofe. Sie kommen aus Neuenburg, jenem Schweizer Kanton, der bis zum Scheitern des royalistischen Putsches unter Karl Friedrich Graf von Pourtalès zugleich preußisches Fürstentum war. Auch zu Henry Dunant selbst besteht eine direkte Verbindung: Die Mutter von Maximilien Perrot, seinem einstigen Mitstreiter im CVJM , ist eine geborene Pourtalès.
Zwei Dinge hat Augusta offenbar umgehend erkannt: Dass es sich um ein brisantes und leidenschaftliches Buch handelt, das nach einer Antwort verlangt. Und dass ihr, wenn sie sich die darin vorgezeichnete Aufgabe zu eigen machte, eine bedeutsame Rolle zufallen würde. Denn derartige Hilfsgesellschaften unterstehen traditionell dem Patronat der Landesmutter. Tatsächlich wird die Königin zur wichtigsten Unterstützerin des Roten Kreuzes in Preußen. Ihre Begeisterung allein hätte der Idee freilich noch nicht zum Durchbruch verholfen. Dafür bedurfte es der Förderung des Militärs, für die Dunant
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