Im Zeichen der Menschlichkeit
Oldenburg beschließt die Schützengilde am 2. Januar 1864 »die Begründung eines Vereins zur Verpflegung verwundeter Krieger«. Wie die örtliche Zeitung meldet, habe sich auf dieser Zusammenkunft überhaupt »mannhafter, patriotischer Geist Bahn gebrochen, indem Exercierübungen sowohl an Sonn- als Wochentagen in der Turnhalle abgehalten werden«. Außerdem habe der Verein zu Spenden für Schleswig-Holstein aufgerufen, wo die Spannungen mit Dänemark immer größer würden.
Die erste reguläre Versammlung Anfang Februar ist dann »namentlich von Damen sehr besucht«. Denn wer könnte die Pflege verwundeter Krieger besser besorgen? Auch zwei der fünf Vorstandsmitglieder sind Frauen. Der Verein beschließt, einen Mitgliedsbeitrag zu erheben; mit derart praktischen Fragen hatten sich die vermögenden Genfer Initiatoren bislang noch gar nicht befasst. Die Sitzung findet bereits «in Zeiten drängender Veranlassung zur Tätigkeit« statt – in Schleswig-Holstein herrscht mittlerweile Krieg. Ein Muster, das häufig wiederkehren wird: Die Gründung oder Wiederbelebung einer Rotkreuzgesellschaft kann oft als zuverlässiger Seismograph für bevorstehende militärische Auseinandersetzungen dienen.
Ein Widerspruch in sich
Nicht von ungefähr entsteht diese Bewegung in jener turbulenten Phase Mitte des 19. Jahrhunderts, in der militärische Auseinandersetzungen praktisch Schlag auf Schlag folgen. Wäre sie etwas später aus der Taufe gehoben worden, die nachfolgende vierzigjährige Friedenszeit in Westeuropa hätte ihre Bemühungen wohl bald wieder erlahmen lassen. So aber können die neuen Hilfsgesellschaften in einer raschen Folge von Kriegen ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen und den beteiligten wie den nicht beteiligten Staaten die Zweckmäßigkeit einer solchen Einrichtung vor Augen führen.
Der erste Einsatz erfolgt 1864 während des Deutsch-Dänischen Krieges. General Dufour, so vermerken es die Protokolle, »besteht auf der Verpflichtung, zwei Delegierte zu entsenden, einen nach Deutschland und den anderen nach Dänemark, um unseren Grundsatz der Unparteilichkeit und Internationalität zu wahren«. Der erfahrene Militär denkt den Konflikt automatisch von beiden Seiten her und gibt so ein frühes Beispiel für die Bedeutung der Grundsätze.
Der holländische Kartograph und frühere Marineoffizier Charles van de Velde soll das Geschehen auf dänischer Seite verfolgen. Louis Appia, der fließend Deutsch spricht, da er in Frankfurt aufgewachsen ist und in Heidelberg studiert hat, ist als Beobachter für die preußische Seite vorgesehen. Jeder von ihnen trägt einen Kreditbrief über zweitausend Franken bei sich und eine von Gustave Moynier signierte weiße Armbinde mit rotem Kreuz. Außerdem Briefpapier, Skizzenblöcke und einen dicken Mantel.
Weil die gefrorenen Buchten und Flussmündungen ihnen strategische Vorteile bieten, ziehen die Preußen und die mit ihnen verbündeten Österreicher im Winter in den Krieg. Er beginnt am 31. Januar 1864. Eine Woche später wird das Preußische Rote Kreuz gegründet, das zunächst als »Central-Comité des Preußischen Vereins zur Pflege im Felde verwundeter und erkrankter Krieger« firmiert.
Die Armbinde von Louis Appia mit dem roten Kreuz. Auf der Innenseite links sind die Einsatzorte verzeichnet, rechts ist die Unterschrift Moyniers zu sehen.
© IKRK
Anders als zuvor in Württemberg, Oldenburg und Belgien handelt es sich hier nicht um eine prophylaktische Einrichtung, sondern um eine Gründung während eines laufenden Ernstfalls. Dies erklärt die ungemein rasche Ausbreitung der Organisation, die zwei Jahre später bereits über 120 Unterabteilungen von Düsseldorf bis Königsberg verfügt. Die Mitwirkung daran kann wahlweise als patriotischer Akt oder als humanitärer Einsatz deklariert werden und erweist sich als entsprechend populär. Militaristisch gesinnte Zeitgenossen können so die Kampfkraft der preußischen Divisionen stärken, Menschenfreunde ein Werk der Nächstenliebe tun.
Bei seinem Antrittsbesuch in Berlin nimmt Appia Verbindung zum preußischen Komitee auf, das aus rund zwanzig »Personen in gehobener sozialer Position« besteht. Darunter Innenminister Graf Eulenburg, Staatsminister Graf Arnim-Boitzenburg, der spätere Vizekanzler Graf Stolberg-Wernigerode, Generalstabsarzt Professor Langenbeck sowie die Generalärzte Böger und Loeffler. Louis Appia schlägt »noble Sympathie für unser Werk« entgegen. Eskortiert von einem Oberst macht er sich
Weitere Kostenlose Bücher