Im Zeichen der Menschlichkeit
sich keinen geeigneteren Zeitpunkt hätte aussuchen können.
In Preußen ist die Modernisierung des Heeres in vollem Gange; sie hat Otto von Bismarck 1862 das Amt des Ministerpräsidenten eingebracht und Albrecht von Roon das des Kriegsministers. Der Staat verlängert die Wehrpflicht und rüstet auf breiter Front auf. Hatte die Truppenstärke im Jahr von Solferino noch 150000 Soldaten betragen, so wird sie bis 1870 auf 313000 steigen. Aus Sicht des Kriegsministeriums ist die Einrichtung freiwilliger Hilfsgesellschaften eine flankierende Maßnahme, die auch die moralische Mobilmachung verstärken könnte, weit über militärische Kreise hinaus.
Über das Diplomatische Corps in Berlin geht das Rundschreiben den europäischen Regierungen zu. Einige Fürstenhöfe sucht Dunant im Anschluss an die Konferenz noch persönlich auf – um zu antichambrieren, wie man Lobbyarbeit damals noch vornehm nannte. In Dresden begrüßt ihn Johann I. mit wahrhaft königlicher Höflichkeit: »Was kann ich für Sie tun?« Er befürwortet die Genfer Ideen und gibt, als literarisch gebildeter Monarch, Dunant noch ein wohlgesetztes Wort mit auf den Weg: »Zweifellos würde eine Nation, die sich nicht an diesem humanitären Werk beteiligte, von Europas öffentlicher Meinung in die Acht erklärt werden.« Dunant depeschiert dieses Argument unverzüglich nach Genf und nach Paris, wie er überhaupt unermüdlich flankierende PR-Arbeit betreibt. In Wien und München begegnet man ihm deutlich reservierter – den katholischen Ländern kann eine Initiative aus dem Hort des Calvinismus nicht geheuer sein. Auch Italien und der Vatikan sind zunächst nicht zu einer Unterstützung zu bewegen.
In Stuttgart schenkt man Dunant dagegen umso mehr Gehör. Zwei Pastoren verschaffen ihm das Entree bei Hofe. Feldpfarrer Ernst Rudolf Wagner, den er noch aus der Zeit des CVJM kennt, übersetzt gerade das Solferino-Buch und wird sein Leben lang ein Freund und Anhänger Dunants bleiben. Christoph Ulrich Hahn wiederum, die tragende Säule des Württembergischen Wohltätigkeitsvereins, ist mit Louis Appia befreundet und hat als Vikar einige Zeit in Lausanne verbracht. Prinz Karl Friedrich Alexander, der Thronfolger des Hauses Württemberg, lässt Dunant wissen, dass er »ein ganz besonderes Interesse an der Entwicklung dieser philanthropischen Idee« gefasst habe. Er ist mit Olga, einer Tochter von Zar Nikolaus I., verheiratet, die in Stuttgart schon lange wohltätig wirkt und sich bald auch der Sache des Roten Kreuzes verschreibt. Prinzessin Charlotte von Württemberg wiederum, verheiratet mit einem russischen Großfürsten, hat während des Krimkriegs in den Lazaretten derart aufopferungsvoll gewirkt, dass Dunant sie seither als »Heilige« rühmt. Diesen beiden Frauen ist es maßgeblich zuzuschreiben, dass die Genfer Ideen auch in Russland von Anfang an hochgeachtet sind. Durch die engen verwandtschaftlichen Beziehungen des Hochadels erhält Dunant auch eine Art Zugang zu den Regierenden, wie dies später nicht mehr möglich gewesen wäre. Als geborene Netzwerker und Internationalisten tauschen die Aristokraten sich über neue Entwicklungen aus, bevorzugt natürlich über solche, welche die herrschende Ordnung stabilisieren. Indem sie Militarismus und Humanismus verbindet, trifft die Genfer Initiative einen Nerv ihrer Zeit.
Über Darmstadt führt Dunants Tournee weiter nach Karlsruhe, wo er von Großherzog Friedrich von Baden zuvorkommend empfangen wird, dessen Gemahlin Luise dem dortigen Frauenverein vorsteht. Beinahe berauscht von seinem Siegeszug, kehrt der Sekretär des Internationalen Komitees schließlich zurück nach Genf. Die übrigen Mitglieder des Komitees zeigen sich zwar pikiert, dass Dunant sie mit seiner eigenmächtigen »Berliner Ergänzung« übergangen hat. Doch nun gilt es vor allem, die angekündigte Konferenz in Genf zu organisieren. Erfreulich viele Staaten haben ihre Teilnahme bereits avisiert. Andere werden zwar keine Delegierten schicken, nehmen aber gleichwohl Anteil. So lässt der Großherzog von Oldenburg verlauten, »dass ihm die Bedeutung dieser Versammlung im Interesse der Menschlichkeit« bewusst sei. Kurioserweise bestellt er seinen Hofbaumeister zum Verbindungsmann. Russland schickt gar den Bibliothekar einer Großfürstin nach Genf.
An der Konferenz nehmen schließlich rund dreißig Abgesandte von sechzehn Staaten sowie vier gemeinnützigen Organisationen teil. Vertreten sind Baden, Bayern, Frankreich, Großbritannien,
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