Im Zeichen der Menschlichkeit
Hannover, Hessen, Italien, Niederlande, Österreich, Preußen, Russland, Sachsen, Schweden, Schweiz, Spanien und Württemberg. Die Verhandlungen finden im Palais de l’Athénée statt, einem klassizistischen Musentempel in der Nähe von Moyniers Haus. Die meisten Delegierten sind Militärärzte, direkt betroffene Fachleute also. Sie, die doch Leben retten sollen, geraten an der Front manchmal selbst in Lebensgefahr. Auch Militärpfarrern wie Hahn und Wagner ist an einer klaren, praktikablen Regelung für den Ernstfall gelegen. Und dass Ernstfälle bevorstehen, daran zweifelt offenbar niemand.
Zu Beginn steckt Dufour den Rahmen ab: »Trotz der Bemühungen der Friedenskongresse wird es, solange die Affekte fortbestehen, Kriege auf dieser Welt geben. Um der Humanität wahrhaft zu dienen, muß man sich, statt der Schimäre nachzujagen, Kriege verhindern zu können, vielmehr darum bemühen, ihre verheerenden Folgen zu verringern.« Moynier sieht in der Schaffung freiwilliger Hilfsgesellschaften zunächst durchaus ein aufklärerisches Projekt: »Indem wir Hilfeleistungen für die Verwundeten einleiten, regen wir durch die Schilderung ihrer elenden Lage das Mitleid an und enthüllen die furchtbare Wirklichkeit eines Krieges. Im Namen der Nächstenliebe sprechen wir offen aus, was die Staatsraison geheimzuhalten für nötig befindet.« Und so erfüllt eine Mischung aus Pragmatismus und Pioniergeist die Teilnehmer, ein illusionsloser Idealismus. Derartige Paradoxien gehören von Anfang an zum Lebenselement des Roten Kreuzes.
Der russische Diplomat Anatolij Demidoff beschwört die Konferenz, sich auch gefangener Soldaten anzunehmen. Er hatte sich während des Krimkriegs für russische Gefangene in Händen der Franzosen und Engländer eingesetzt, hatte ihre Nachrichten übermittelt, ihren seelischen Schmerz und den ihrer Angehörigen erlebt. Doch sein Anliegen wird vorerst vertagt, erst muss Einigung über die Zulassung freiwilliger Helfer zum Sanitätsdienst erzielt werden. Appia schlägt zu ihrer Kennzeichnung eine weiße Binde am linken Arm vor, in Analogie zur Parlamentärsflagge, die in Kriegen die Unverletzlichkeit der Unterhändler sichern soll. Die Markierung mit dem Kreuz wird meist Dufour zugeschrieben, hatte er doch schon bei der Entscheidung für das Schweizerkreuz als Landesfahne Pate gestanden. Jedenfalls ist die neue Institution durch die Umkehrung des eidgenössischen Emblems unschwer als schweizerische Erfindung kenntlich. Das rote Kreuz auf weißem Grund sollte sich zu einem der bekanntesten Markenzeichen überhaupt entwickeln – und zu einem Symbol der Menschlichkeit schlechthin.
Nach vier Tagen verabschieden die Teilnehmer am 29. Oktober eine Resolution, welche die Vorlage des »Konkordats« noch erweitert. So können im Kriegsfall über Genf auch Hilfsgesellschaften neutraler Staaten angefragt werden. Das Internationale Komitee wird vorläufig als Vermittler zwischen den nationalen Verbänden fungieren; weitere Konferenzen sollen folgen. Neben den zehn Beschlüssen formuliert die Resolution auch noch drei Wünsche, die weniger verbindlichen Charakter tragen. Sie sehen im Kriegsfall die Neutralität der Lazarette, der Verwundeten und der Helfer vor. Und dass beide, Orte wie Menschen, durch ein allgemein anerkanntes Zeichen geschützt werden sollen. Zum Schluss erheben sich die Teilnehmer vor dem Autor der Erinnerung an Solferino , und Basting bescheinigt ihm und der Gemeinnützigen Gesellschaft, sie hätten sich um die Menschheit verdient gemacht. Nach Ende der Tagung gehen beim Komitee etliche anerkennende Spenden Genfer Bürger ein, darunter auch hundert Franken von Dunants Eltern.
Diese Vorbereitungskonferenz des Jahres 1863 wird als die eigentliche Geburtsstunde des Roten Kreuzes angesehen. Sie nimmt sich vor, dem Krieg Grenzen zu setzen, ihn zu erziehen, indem sie Regeln für den Umgang mit kampfunfähigen Soldaten und kampfneutralen Helfern aufstellt. Salopp gesagt: einen Knigge für Kriegszeiten. Auf Soldaten darf geschossen werden, auf Sanitäter jedoch nicht. Es ist der Versuch, in der lebensfeindlichen Landschaft des Krieges Oasen der Menschlichkeit zu schaffen.
Kaum zurück in Stuttgart, leiten die beiden Pastoren Hahn und Wagner die Gründung des Württembergischen Sanitätsvereins in die Wege. Am 12. November 1863 wird er als weltweit erste nationale Rotkreuzgesellschaft ins Vereinsregister eingetragen. Auch andere deutsche Staaten folgen dem Beispiel der Schwaben. Im Großherzogtum
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