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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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dass durch Spenden und Hilfsleistungen ungleich mehr Mittel zur Verfügung stehen, als wenn der Staat diese Aufgaben direkt finanzieren müsste. Alternativen wie die Erhebung einer Kriegssteuer gelten in der Bevölkerung als unpopulär, während diese die gleichen Mittel einer humanitären Organisation freudig zur Verfügung stellt – und ihre kostenlose Arbeitskraft dazu.
    Im Laufe des 19. Jahrhunderts haben immer mehr europäische Länder die Wehrpflicht eingeführt. Damit betrifft nun jede militärische Auseinandersetzung die gesamte Gesellschaft unmittelbar. In dieser kritischen Phase hat Dunant ein wirksames politisches Instrument erfunden, ein Schweizer Taschenmesser für Kriegs- und Krisenfälle. Die kollektive Belastung eines Krieges kann so zu einem Teil in geordnete, nutzbringende Bahnen geleitet werden. Staat, Militär und Bevölkerung ziehen hier an einem Strang.
    Hinter dem Siegeszug des Roten Kreuzes steckt also vor allem Realpolitik. Nicht umsonst spricht Dunant von einem »Kartell der Humanität«. Was bei ihm noch Ausdruck spontaner Fürsorge war, wird nun mit großer Geste inszeniert. »Zum Besten des Internationalen Werkes« wird 1867 in der Pariser Oper ein Ball veranstaltet. Begleitet von lebhaften Akklamationen, halten Kaiser und Kaiserin Einzug. Girlanden und Sterne schmücken den Saal, sechzig Kronleuchter erstrahlen. Das Orchester spielt die Nationalhymnen jener Länder, die der Konvention beigetreten sind. Danach wird bis früh um drei getanzt.
    Auch auf der Weltausstellung im selben Jahr nimmt das Rote Kreuz einen prominenten Platz ein. Schwerpunkt der Schau ist ausgerechnet Französisch-Nordafrika, wo die Probleme der Mühlengesellschaft Henry Dunant allmählich über den Kopf wachsen. Wieder lenkt er sich mit anderen Dingen ab. Er träumt von der »Erneuerung Palästinas« und nimmt mit seinem Vorschlag eines »allgemeinen Weltkongresses« gar die Idee des Völkerbunds vorweg. Rückblickend könnte man ihm dafür prophetische Fähigkeiten attestieren. Doch vom Propheten zum Phantasten ist es nur ein kleiner Schritt. Für die Zeitgenossen demonstriert er mit diesen Ansinnen lediglich seine völlige Verkennung der politischen und kulturellen Realitäten.
    Über seine geschäftliche Lage täuscht er sich ebenfalls. Für gewöhnlich machen seine Biographen vor allem die koloniale Bürokratie für das Scheitern als Unternehmer verantwortlich. Doch was, wenn er die neuen Konzessionen deshalb nicht erhält, weil man ihm die Aufgabe schlicht nicht zutraut? Auch und gerade an höchster Stelle? Nach einem Treffen mit Dunant in Algier schreibt Napoleon III . an Dufour: »Es genügt nicht, Luftschlösser zu bauen.« Der Kaiser lässt ihn abblitzen und vergibt die Konzession an die französische Konkurrenz.
    Schließlich erwirbt die Mühlengesellschaft einen Steinbruch, den Dunant mit Gewinn weiterveräußern will. Zeitlich und finanziell in höchster Bedrängnis, verkauft er das Gelände zu einem überhöhten Preis an eine Genfer Bank, in deren Aufsichtsrat er sitzt. Jede andere Bank hätte das Geschäft strenger geprüft – und abgelehnt. Dann wäre die Mühlengesellschaft pleitegegangen, aber Dunant hätte vielleicht eine Chance gehabt, seinen Sturz leidlich abzufangen. So aber kommt es zu einer noch größeren Katastrophe. Denn wenig später ist die ganze Bank insolvent. Im nachfolgenden Gerichtsverfahren stellt sich heraus, dass sie weitere dubiose Transaktionen getätigt hat. In erster Instanz wird Dunant keine direkte Schuld zugeschrieben. Aber die geschädigten Aktionäre lassen nicht locker, schließlich geht es um eine Million Franken. In zweiter Instanz wird er 1868 wegen betrügerischen Bankrotts verurteilt. Als Mitgesellschafter verliert auch seine Familie den Großteil ihres Vermögens und den Landsitz von La Monnaie. Dunant selbst hat dem Ort der Schmach und Sitz seiner Gläubiger da bereits den Rücken gekehrt und sich nach Paris geflüchtet.
    In jedem Land ist ein Bankrott ein schwerer Makel für den Betroffenen. Doch im calvinistischen Genf kommt er einem Verdammungsurteil gleich. Die herrschende Prädestinationslehre, derzufolge alles Glück und Unglück vorherbestimmt ist, sieht im wirtschaftlichen Erfolg des Einzelnen ein Indiz für das Walten der göttlichen Gnade. Wer derart tief stürzt wie Dunant, muss in Gottes Ungnade gefallen sein. Bis heute hat Genf die Ausstrahlung einer Stadt, die es nicht verzeiht, kein Geld zu haben.
    Schon der erste Prozess hat Moynier, seit 1864

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