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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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diesem Beispiel. Das Rote Kreuz tritt als Generalpächter auf und überlässt den Gärtnern die Parzellen gegen eine geringe Pacht. Die meisten von ihnen sind Arbeiter, Handwerker und kleine Angestellte; kinderreiche Familien und erholungsbedürftige Personen werden bevorzugt.
    An einem lauen Juniabend Anfang des Jahrhunderts herrscht in den dreihundert Parzellen der Kolonie »Jungfernheide« reges Treiben. Die Kleingärtner ernten Stachelbeeren, jäten Unkraut oder trinken gemütlich einen Schoppen. Da zieht ein Pulk von Menschen den Hauptweg entlang, begleitet von Hochrufen: »Ihre Majestät, die Kaiserin!« Über den Zaun hinweg erkundigt sie sich nach Ernteerträgen und Familienverhältnissen, besichtigt so manche Laube und nimmt huldvoll die eilig geschnittenen Blumensträuße entgegen. Am Spielplatz hat sie für jedes Kind ein freundliches Wort.
    Auguste Viktoria ist unangemeldet erschienen und hat sichtlich Freude an der Verblüffung ihrer Untertanen. Nicht ganz so überraschend scheint der Besuch indes für ihre Entourage gekommen zu sein. Der Vorstand des Vaterländischen Frauenvereins Charlottenburg und die Vorsitzenden der Arbeitergärten sind vollständig versammelt: Frau Staatsminister Freifrau von Rheinbaben, Frau Staatsminister von Thielen, Frau Konsul Flora Fränkel, Regierungsrat Dr. Stöcker, Oberstabsarzt Dr. Rietner sowie Direktor Jachmann. Eine bezeichnende Momentaufnahme der wilhelminischen Gesellschaft. Den Arbeitern traut man zwar die Bewirtschaftung der Gärten zu, die Verwaltung aber bleibt besser in den Händen des konservativen Establishments.

    »Friede, Freude, Eintracht, Segen«: In der Berliner Jungfernheide richtet das Rote Kreuz einen seiner ersten Arbeitergärten ein.
    © DRK
    Auch der Frauenverein im Kreis Usedom-Wollin stützt sich auf die örtlichen Honoratioren: Frau Bürgermeister, Frau Amtsgerichtsrat, Herr Major, Herr Postdirektor. Die beiden Ostseeinseln sind einerseits klassische Provinz, landwirtschaftlich geprägt und dünn besiedelt. Andererseits vervielfachen 200000 Feriengäste im Jahr die Bevölkerungszahl und bringen städtisches Publikum an die Küste. Viele davon aus Berlin, angeführt vom »obersten Schirmherren des Reiches«, der in den Kaiserbädern Erholung sucht und Flottenmanövern beiwohnt, während Kaiserin Auguste Viktoria in Swinemünde den Frauenverein mit ihrem Besuch beehrt.
    Im Urlaub sind die Menschen offener und freigebiger als im Alltag, weshalb der Verein mit einem erhöhten Spendenaufkommen rechnen darf. Drei Mark Mitgliedsgebühr bringen jährlich achthundert Mark in die Kasse, weitere tausend bringen Konzerte, Theatervorstellungen und Vorträge ein. Kantor Palm und Gesanglehrer Schmalz, die Liedertafeln, die Kurkapellen und der Chor des Lyceums, sie alle tragen ihr Scherflein bei. Daraus bestreitet der Verein kleinere Ausgaben in der Armenfürsorge und gibt jährlich tausend Portionen Suppe an mittellose Kranke und Wöchnerinnen aus. Um den Bau eines Siechenheims – den heutigen Pflegeheimen entsprechend – zu finanzieren, veranstaltet er einen Basar, an dem sich rund hundert Damen beteiligen. Kasse und Glücksbude spielen 3200 Mark ein. Zwei Wahrsagezelte erbringen 150, der Bowleausschank 180 und der Tiroler Tanzplatz 240 Mark. Als Renner entpuppen sich jedoch »Rosenbar und Kußzelt«, für welche sich die Fräuleins Gerndt, Haupt, Peters und Krause selbstlos zur Verfügung stellen – 400 Mark. Insgesamt erbringt die Benefizaktion 11160 Mark und 15 Pfennige. Als noch ergiebiger erweist sich wenig später der Blumentag in den Seebädern. Zweitausend »holde Maiden« bieten, begleitet von Aufsichtsdamen mit Rotkreuzarmbinde, künstliche Kornblumen feil. Dank einiger Kurkonzerte und Tanzabende werden insgesamt weitere 16000 Mark eingenommen. Der Frauenverein kann die Grundsteinlegung planen.
    Fast jedes Jahr finden zudem außerplanmäßige Aktionen statt. Die Frauen sammeln für die Opfer der Überschwemmungen in Sachsen und der Cholera in Hamburg, für die Hinterbliebenen von Schiffs- und Grubenunglücken, aber – als vaterländischer Verein – auch für das Bismarckdenkmal der Provinz Pommern und zur Silberhochzeit Ihrer Majestäten. Eine gewisse regionale Präferenz ist nicht zu leugnen: Nach dem Vulkanausbruch auf Martinique, dem 28000 Menschen zum Opfer fallen, kommen lediglich 38 Mark zusammen, nach dem Brand mehrerer Höfe in Ulrichshorst immerhin 506 Mark. Die Küstenbewohner sind auch selbst immer wieder von Naturkatastrophen

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