Im Zeichen der Menschlichkeit
Sibirien
Dass in Kriegszeiten auch die Fürsorge für die Zivilbevölkerung zu den Aufgaben des Roten Kreuzes zählen könnte, dieser Gedanke hat in der Politik erst spät Fuß gefasst. Es brauchte einen weiteren Weltkrieg, bis 1949 die Genfer Konvention entsprechend erweitert wurde. Ihre erste Revision im Jahr 1906 schuf aber zumindest die Grundlage für eine Verankerung der Gefangenenfürsorge im Völkerrecht; parallel wurden im Gefolge der Haager Friedenskonferenzen Mindeststandards für deren Behandlung entwickelt. Wobei die genauen Aufgaben des Roten Kreuzes dabei ebenso ungeklärt geblieben sind wie die Arbeitsteilung zwischen dem Komitee, den nationalen Gesellschaften der kriegführenden und der neutralen Staaten.
Über die Schweiz und andere neutrale Staaten tauschen die verfeindeten Mächte mit Hilfe des Roten Kreuzes verwundete Gefangene aus.
© A .Grohs / DRK
In Anlehnung an das Auskunftsbüro in Basel, das sich 1870 bewährt hat, richtet das Komitee noch im August 1914 im Genfer Musée Rath eine Internationale Agentur ein. Sie soll der Erfassung der Kriegsgefangenen, dem Nachrichtenaustausch zwischen ihnen und ihren Angehörigen sowie der Nachforschung nach Vermissten dienen. Es beginnt mit einer Liste von 29 französischen Verwundeten in Pforzheim. Und es endet mit fast fünf Millionen Karteikarten, die nach einem ausgeklügelten System durch Verweise erschlossen werden. Die Säle des Kunstmuseums sind zu riesigen Registraturen geworden, in denen 1200 ehrenamtliche Mitarbeiter versuchen, mit einem mörderischen Krieg Schritt zu halten. Der immer mehr Anfragen, immer mehr Opfer und buchstäblich immer mehr Karteileichen hervorbringt. Allein der Name Henri Martin taucht fünfhundert Mal auf. »Das Rote Kreuz«, schreibt Stefan Zweig anlässlich eines Besuchs der Agentur, »hatte die Aufgabe übernommen, inmitten des Grauens den Menschen wenigstens die grimmigste Qual abzunehmen: die Ungewissheit über das Schicksal geliebter Menschen.« Er rühmt die Schweiz als »Hilfsland Europas« und bekennt, während des Krieges nichts gesehen zu haben, das zu schildern ihm würdiger erschiene als diese Agentur.
In bescheidenem Umfang organisiert das Komitee auch den Gefangenenaustausch über neutrale Staaten. Meist handelt es sich dabei um Schwerverwundete, deren Verletzungen einen abermaligen Einsatz ausschließen. Das Schweizerische Rote Kreuz setzt mehrfach einen Lazarettzug ein, der gefangene Franzosen nach Lyon, gefangene Deutsche nach Konstanz überführt. Der Bahnhof der Bodenseestadt wird zur Kulisse einer regelrechten Völkerschau: Berber mit rotem Fes, Inder mit weißem Turban, Schotten mit karierten Röcken, sie alle warten auf ihren Weitertransport. In Aachen werden die zahllosen ankommenden Verwundeten kurioserweise im früheren zoologischen Garten untergebracht. An jedem der 250 Betten im großen Glaspalast steht ein Blumenstrauß. Wo bis vor Kurzem Zebras grasten und Flamingos herumstolzierten, promenieren nun Kriegsbeschädigte auf Krücken und unternehmen Bootspartien.
Ein Zug der Schweizer Bundesbahnen bringt Kriegsgefangene zurück nach Deutschland. Das im Gegenzug Soldaten der Entente in die Freiheit entlässt.
© A .Grohs / DRK
Der Austausch mit Russland erfolgt über schwedisches Gebiet, hoch oben in Lappland. Im Winter müssen die Verwundeten die Mündung des Grenzflusses mit Pferdeschlitten überqueren, in Pelze eingemummt. Im April 1917 wird eine dreißigköpfige Gruppe die Schlitten in die entgegengesetzte Richtung besteigen – Lenin mit Gefolge. Deutschland und Russland haben außerdem Inspektionen der gegnerischen Gefangenenlager vereinbart. Anfangs können sich die Vertreter des Roten Kreuzes noch vergleichsweise ungehindert bewegen, später werden sie zunehmend gegängelt und belogen. Die ersten drei Abordnungen im Zarenreich bestehen jeweils aus einer deutschen Schwester, einem dänischen Delegierten als neutralem Beobachter und einem russischen Kontrolloffizier. Zunächst beabsichtigen die Russen, sie in Vorzeigelager im europäischen Teil des riesigen Reiches zu führen. Sehr zum Erstaunen ihrer Ansprechpartner bestehen die Schwestern aber darauf, auch Lager in Sibirien und Mittelasien zu besuchen. Sie setzen ihren Willen durch. »Im Kriegsministerium ging ich ein und aus«, berichtet Alexandrine Gräfin Üxküll-Gyllenband, Oberin der Wiesbadener Schwesternschaft. Die adeligen Damen nutzen ihre Beziehungen zur russischen Aristokratie und sprechen auch in Zarskoje Selo
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