Im Zeichen der Menschlichkeit
natürlicher Takt und ihre Neugier auf Menschen bewahren sie davor, sich zu verrennen.
Gelegentlich helfen deutsche Rotkreuzkräfte auch verbündeten Armeen wie hier in Galizien, wo Österreich-Ungarn gegen Russland kämpft.
© DRK
Das Tagebuch gerät zu einem wichtigen Halt, zu einem Ort der Privatheit in einem Leben, das sonst ganz von der Not anderer bestimmt wird. Wenn wenig Zeit bleibt, müssen lakonische Vermerke genügen: »Waldemar ist tot, Strasser scheint es besser zu gehen, Grosche liegt im Sterben.« Ist die Stimmung entspannter, zeichnet sie auch heitere Begebenheiten auf. Ein Soldat hält im Typhusdelirium unverständliche Monologe, weshalb sie glaubt, einen gefangenen Franzosen vor sich zu haben. Groß ist die Verblüffung, als seine Kameraden ihr eröffnen, er sei »a Senn von der Zugspitzgegend«. Die beiden freunden sich an, und der Senn verspricht ihr, dass er, sollte er je wieder nach Hause kommen, den ersten Gamsbart für sie schießen würde. Schließlich stimmen die übrigen Bajuwaren noch das Loisachtal-Lied für »dos sakrisch feine Madel« an.
Nach fünf Monaten ist der Krieg für Mierisch zum Normalzustand geworden. Die erste richtige Krise erlebt sie nicht etwa im Lazarett, sondern auf Heimaturlaub, zu dem sie regelrecht abkommandiert werden muss. »Mir graut vor den vielen Besuchen. Über das Erlebte kann ich unmöglich sprechen.« Eine Mitschwester erteilt ihr dann noch den Ritterschlag: »Schenken wir uns das Du wie die Soldaten; genug durchgemacht haben wir wohl. Du bist ein ganz patenter Kriegsfreiwilliger, ein guter Kamerad Schwester.« Von nimmermüder Strebsamkeit, belegt sie Fortbildungen an den Wochenenden, und selbst im Urlaub hospitiert sie in einer Taubstummenanstalt. Gesundheitlich geht sie an ihre Grenzen, sie ist durchaus gefährdet, vor allem seit ihre Station immer mehr Fälle von Gehirnhautentzündung zu verzeichnen hat. »Bisher bekamen wir noch nicht einen wieder gesund.« Und dann folgt ein ungeheuerlicher Satz: »Ich habe so viel Morphium gehamstert, dass es im Falle einer Ansteckung zu einem schnellen Tod reicht.« Sie weiß nur zu gut, was die Krankheit bedeutet.
Zwangsläufig wird die junge Frau auch zum Gegenstand erotischen Interesses. Sie weiß damit umzugehen. »Ich wäre zu dem intelligenten Menschen gern freundlicher gewesen, wenn mich nicht die Angst beherrscht hätte, dass er die Grenze zwischen Schwester und Frau verwischen würde.« Eine Weile tut sie in einem Saal mit Achtzehnjährigen Dienst. Selbst kaum älter, erscheint sie den jungen Soldaten doch als gütige Autorität. Bei vielen steigt die Erinnerung an die Zeit der Kinderkrankheiten auf. »Das junge Gesicht sieht mich aus verglasten Augen verständnislos an und sagt: ›Mutter, freust du dich denn gar nicht? Drücke mich doch mal.‹ Ich nahm den Kopf in meine Arme und drückte ihn zart, während Tränen auf die ihn streichelnden Hände fielen. ›Bleib nur bei mir, Mutter.‹«
Im Februar 1917 wird Mierisch versetzt und reist einmal diagonal durch Deutschland bis nach Litauen, bei minus dreißig Grad im ungeheizten Personenwagen. Das bis dahin russisch regierte Baltikum steht inzwischen unter deutscher Besatzung. Es ist eine andere, wildere Welt als die der vermeintlich idyllischen Vogesen. Im zugigen Gymnasium einer Kleinstadt liegen 3000 Kranke und Verwundete. Das Waschwasser gefriert in den Schüsseln, Ungeziefer plagt Schwestern und Patienten. Russische Kriegsgefangene hacken Holz, schleppen Wasser, tragen die Bahren. Mierisch wird als Operationsschwester eingeteilt und muss sich gleich am ersten Tag bei einem dreistündigen Eingriff bewähren. Die einen kommen wegen erfrorener Gliedmaßen unters Messer, die anderen wegen verheerender Verbrennungen durch Flammenwerfer, die in diesem Krieg erstmals massiv eingesetzt werden.
Als sie nach einigen Monaten auf Urlaub nach Hause fährt, hat sich die Lage dort erheblich verschlechtert. »Jetzt lerne ich den Krieg in der Heimat kennen. Überall grinst einen das Gespenst des Hungers an.« Ihr Vater hat sechzig Pfund abgenommen, die Mutter ist krank. Sie kochen Suppe aus Kartoffelschalen. Dennoch gerät sie nicht ins Zweifeln. Zu helfen ist ihr Lebensinhalt. Und auch wenn sie die zahllosen Verluste nur beklagen kann – den Krieg und seine Motive hinterfragt sie nicht.
Nach der Oktoberrevolution in Russland kommt es Ende 1917 zu einem Waffenstillstand. Doch marodierende Banden und Bolschewiken machen die Gegend weiter unsicher, so dass drei
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