Im Zeichen der Menschlichkeit
Bürgerkriegs werden die Gefangenen schließlich entlassen. Als Brinkmann in der deutschen Gesandtschaft in Moskau vorsprechen will, steht er vor verschlossenen Türen – der Botschafter ist gerade erschossen worden. Auch die Rotkreuzschwestern sind ihres Lebens nicht mehr sicher. Elsa Brändström wird sechs Wochen lang als Geisel festgehalten, und diese »sinnlose Wartezeit« zehrt mehr an ihr als alles erlebte Leid zuvor. Generaloberin von Horn wird am Kaspischen Meer als Spionin inhaftiert, Erika von Passow stirbt auf der Flucht aus einem Lager in Russisch-Turkestan. Auch mehrere skandinavische Delegierte werden umgebracht. Insgesamt bezahlen im Ersten Weltkrieg 863 deutsche Rotkreuzangehörige ihren Einsatz mit dem Leben. Aufseiten der Alliierten dürften die Verluste ebenfalls gravierend gewesen sein. Zum berühmtesten Fall wird die britische Krankenschwester Edith Cavell, die in einem Rotkreuzkrankenhaus in Brüssel arbeitet. Nach der deutschen Besetzung Belgiens verhilft sie verwundeten Briten, Franzosen und Belgiern zur Flucht nach Holland. Der deutsche Nachrichtendienst schleust zwei Agenten ins Lazarett ein, die sie verraten. Cavell wird zum Tode verurteilt und erschossen. Der Militärarzt, der Prozess und Hinrichtung begleitet, wird einige Jahre später eigenwillige Überlegungen anstellen: »Sie hatte als Mann gehandelt und wurde von uns als Mann bestraft. Sie war in den Krieg eingetreten, und der Krieg vernichtete sie. Ich glaube, daß die Frau von heute für diese Konsequenz nicht nur Verständnis hat, sondern sie fordert.« Dieser Arzt war Gottfried Benn.
»Spartakus marschiert«: Beim Januaraufstand 1919 in Berlin verbinden Rotkreuzschwestern lädierte Milizionäre. Die Litfaßsäule wurde als Barrikade benutzt.
© DRK
Letzte Heimfahrt
Bleibt noch nachzutragen, wie die drei Tagebuchschreiber das Kriegsende erlebten. Die Spur von Sekretär Diederich verliert sich, sein Lazarettzug ist aber weiter im Einsatz und absolviert insgesamt 120 Fahrten mit rund 30000 Verwundeten. Gunta Stölzl wird in Lüttich demobilisiert: »Sonntag letzte Heimfahrt, lang – grau – trostlos. Und das ist das Ende von viereinhalb Jahren schwerster Opfer.« Was soll sie nun beginnen? »Mir fehlt der große Kreis von Menschen, für die man da war. Jetzt dreht sich alles wieder um das kleine Ich.« Sie nimmt ihr Studium wieder auf und strebt mehr denn je nach Klarheit und Wahrhaftigkeit. In den zwanziger Jahren wird sie zu einer der wichtigsten Künstlerinnen des Bauhaus. Die Erfahrungen im Lazarett dienen fortan als existenzieller Maßstab, der ihrer Kunst wie ihrem Leben eine unbestechliche Orientierung gibt.
Helene Mierisch bleibt bis November 1918 auf ihrem baltischen Posten, um einen halbwegs geordneten Rückzug zu ermöglichen. Was dem Kamerad Schwester einmal mehr kerniges Lob von soldatischer Seite einbringt: »Nehmt euch ein Beispiel an diesem Weibsbild.« Kurz vor Berlin wird der Evakuierungszug dann gestoppt. Der Bürgerkrieg ist in vollem Gange. Schüsse knallen, Spartakus marschiert.
Am nächsten Tag geraten sie dann mitten in den Umsturz »und sind auf einmal im schönsten Revolutionsrummel. Da kam auch noch ein Auto mit Maschinengewehren gefahren, von dem Liebknecht in die Menge hineinrief.« Kurz vor Weihnachten trifft sie schließlich zu Hause ein. Und blickt, wie das ganze Land, einer ungewissen Zukunft entgegen.
Nach dem Ersten Weltkrieg suchen Scharen von Kriegsinvaliden einen Weg zurück ins Leben.
© A .Grohs / DRK
KAPITEL 6 »Wohlfahrt und Wehrkraft«
Die zwanziger Jahre
Liebe Schwester Mathilde, die Leute schweigen ja alle,
wenn sie auch verwundet sind …
aber Ideale hat keiner mit heimgebracht,
das können Sie mir glauben.
HERMANN BROCH, DIE SCHLAFWANDLER
Die Arbeitergärten in Berlin, sie wachsen und wachsen. Schon während des Krieges hat sich ihre Fläche infolge der Versorgungsschwierigkeiten verdoppelt. Danach dehnen die Anlagen sich nochmals aus. Allein im Bezirk Charlottenburg pachtet das Rote Kreuz 600000 Quadratmeter zusätzlich. Sie dienen nicht als Kleingärten, sondern als Kleinfelder. Dreitausend Familien können sich dort mit Kohl und Kartoffeln versorgen sowie mit Grünfutter zur Kleintierzucht. Infolge der Wohnungsnot werden immer mehr Sommerlauben zu ganzjährigen Behausungen umgebaut. Das Rote Kreuz muss Entwicklungshilfe im eigenen Land leisten. Denn Deutschland liegt am Boden. Ein geschlagenes Land, ein einziges Notstandsgebiet. Es ist bezeichnend, dass nun auch
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