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Im Zeichen der Menschlichkeit

Im Zeichen der Menschlichkeit

Titel: Im Zeichen der Menschlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Schomann
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verstanden mich.« Wobei ihr die fachliche Qualifikation mancher Mitarbeiter durchaus imponiert. Die einheimischen Hebammen etwa könnten sich mit jeder europäischen Kollegin messen, und auch ihren Gehilfen, der die Arzneien zubereitet, die Kindermilch sterilisiert und die Verbände wechselt, würde sie jedem deutschen Apotheker getrost empfehlen.
    Zweimal im Monat ist Zahltag in den Pflanzungen. Dann stolzieren die Männer wie bunt gefiederte Papageien einher, und die Kinder schmücken sich mit Blumen. In pittoresker Prozession besuchen sie so ihre Familienmitglieder im Krankenhaus. Wo die mitgebrachten Köstlichkeiten sämtliche Ernährungspläne hinfällig machen und sie sich durch ihr sorgloses Verhalten mit Masern oder Fieber anstecken.
    Neben den Plantagenarbeitern finden sich bald auch viele Dorfbewohner im Krankenhaus ein. Wenn sie die Kosten für die Behandlung gegenüber ihrem Arbeitgeber nicht verantworten kann, übernimmt Schwester Antoinette sie selbst. So umfasst ihre Mission eine dreifache Fürsorge: für die Kranken im Hospital, für die Nachbarschaft und für das Mutterhaus in München. Wenn das Heimweh sie überkommt, geht sie in die Kinderbaracke und singt den Kleinen etwas vor. Eine andere Kraftquelle ist die Schönheit der Natur. Die Sternennächte entfalten eine derart magische Wirkung, dass sie sich zum Schlafen zwingen muss. »Es war ein Zauber, der sich nicht in Worte fassen läßt. Die Luft war erfüllt vom berauschenden Vanilleduft, den Hunderte von Orchideen ausatmeten. Tausende von Leuchtkäfern funkelten wie Juwelen im Dunkel der Nacht.« Bei Ausfahrten oder Krankenbesuchen begegnet sie Elefanten, Malaienbären und Affenhorden, und eines Nachts gar einem Tiger in einer mondbeschienenen Lagune.
    Ihre fundierte Ausbildung bewährt sich täglich aufs Neue. Kleinere Eingriffe erledigt sie in eigener Verantwortung. »Eine Rotkreuzschwester in solcher Abgeschiedenheit muß auch im Handwerk des Zahnarztes Bescheid wissen.« Einmal springt ihr ein Patient nach zwei erfolgreich gezogenen Zähnen vom Stuhl und rennt davon – wird aber von johlenden Krankenhausinsassen wieder eingefangen. Woraufhin sie ihm dann auch den dritten Zahn ziehen kann. Eines Nachts schlägt ein Patient einem anderen im Streit eine Flasche ins Gesicht. Die Scherben verletzen ihn so schwer, dass er zu verbluten droht. Nach telefonischer Rücksprache mit dem vierzig Kilometer weit entfernten Arzt näht Gilg die zahlreichen Schnittwunden selbst. Der Mann überlebt, die Narben verheilen, ohne hässliche Wülste zu hinterlassen. Der erfolgreiche Eingriff erhöht ihren Nimbus bei den Einheimischen: »Ein solches Maß weiblicher Initiative war für sie nahezu unfaßlich.« So kommt sie zu ihrem Spitznamen: »Tuan Zuster«, Herr Schwester.
    Als medizinischer Extremfall begegnet ihr auch das Phänomen des Amok – das Wort stammt nicht von ungefähr aus dem Malaiischen. Die Betroffenen geraten »in eine Art von Tollwut, in der sie in rasendem Lauf blindwütig um sich stechen, bis sie mit Schaum vor dem Munde niedersinken«. Während die Einheimischen ihr versichern, die Betroffenen seien von bösen Geistern besessen, interpretiert Gilg diese Fälle als Nebenwirkung der Malaria. Ein schweres Augenleiden setzt ihrem Wirken dann Mitte der dreißiger Jahre unwiderruflich ein Ende. Als sie zurückkehrt, findet sie ein gänzlich anderes Deutschland vor.
    So wie Antoinette Gilg ziehen auch einige andere Rotkreuzhelfer in die Welt hinaus; Helene Mierisch etwa geht als Krankenschwester nach Brasilien. Doch die großen Auslandsexpeditionen gehören vorerst der Vergangenheit an, nun, da Deutschland selbst Ziel vielfacher Hilfsprogramme ist. Ein letzter Nachhall dieser Tradition ist der Einsatz von einem Dutzend deutscher Rotkreuzschwestern im Griechisch-Türkischen Krieg, der von 1919 bis 1922 andauert. Diese heute in Vergessenheit geratene Mission verdankt sich den Verbindungen der alten Oberschicht: Königin Sophie von Griechenland, Schirmherrin des Einsatzes, ist eine preußische Prinzessin und Schwester von Wilhelm II.
    Das einzige große Auslandsengagement während der Weimarer Zeit erfolgt bei der Hungersnot in der Ukraine und Südrussland von 1921 bis 1924. Auch wenn der humanitäre Zweck im Vordergrund steht, handelt es sich um eine eminent politische Mission in Tuchfühlung mit dem Auswärtigen Amt. Die deutsche Hilfe erfolgt als Teil der Annäherung an die Sowjetunion, wodurch die Isolierung beider Länder verringert werden soll.

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