Im Zeichen der Menschlichkeit
Vorleserinnen ein Zubrot. Wurden im Krieg viele Kuranstalten in Lazarette verwandelt, so werden jetzt umgekehrt militärische in soziale Einrichtungen umgewidmet. Die Quartiere auf dem Truppenübungsplatz bei Sigmaringen dienen als Kindererholungsheim, und in Berlin eröffnet in der nun leerstehenden Kaserne eines Garderegiments eine Mensa, die täglich 1500 Studenten versorgt. Der örtliche Rotkreuzverein bittet seine Mitglieder, in der Küche und bei der Austeilung zu helfen: »Sie haben ja reiche praktische Erfahrungen aus der Kriegszeit.«
Auf Betreiben der Liga der Rotkreuzgesellschaften entsteht Anfang der zwanziger Jahre außerdem das Jugendrotkreuz. Sein Leitwort lautet: »Ich diene.« Vom Pfadfindertum inspiriert, soll es nach der epochalen Zäsur des Weltkriegs den Nachwuchs für die Bewegung heranbilden. Henry Dunant, einst Mitbegründer des CVJM , hätte an dieser Entwicklung gewiss seine Freude gehabt. Etwa vierzig nationale Gesellschaften beteiligen sich daran. In Deutschland wird 1925 mit dem Aufbau begonnen; Anfang der dreißiger Jahre umfasst das Jugendrotkreuz bereits 25000 Mitglieder. Die Leitung übernimmt Walther Georg Hartmann, ein Protegé von Joachim von Winterfeldt.
In Kiel bietet die Jugendarbeit ein Potpourri aus Museumsbesuchen, Pflege des Deutschtums, Singen, Leichtathletik, Hilfe für Blinde und Briefwechsel mit Deutschen in den verlorenen Reichsgebieten. Im pommerschen Köslin ist sie eng an die Sanitätskolonnen angebunden, mit Erste-Hilfe-Kursen, Geländetraining und Exerzierübungen. Überhaupt wird Bildungsarbeit großgeschrieben. Vorträge, Wanderausstellungen und Beratungsstellen widmen sich der Gesundheitsvorsorge und der Sozialhygiene, von der Zahnpflege bis zur Vermeidung von Geschlechtskrankheiten. Hildegard Böhme richtet im Berliner Präsidium eine Dokumentationsstelle ein. Sie organisiert Lehrgänge und Konferenzen und unterrichtet in verschiedenen Bildungseinrichtungen Fächer wie Bürgerkunde, Volkswirtschaftslehre und Wohlfahrtspflege.
Insgesamt verschiebt sich das Spektrum der Rotkreuzarbeit in der Weimarer Republik von der männlichen Domäne des Krieges hinein in soziale und pädagogische Felder und in die stärker weiblich definierte Sphäre der Familie. Eine Entwicklung, die längst nicht allen Mitgliedern behagt. Die Traditionalisten vermissen das Militärische und verfallen in eine Art Winterschlaf. »Hat das Rote Kreuz jetzt überhaupt noch etwas zu tun?« – diese Frage des württembergischen Landesvereins ist symptomatisch für die Suche nach einer neuen Identität. Trotz aller Bemühungen macht das Rote Kreuz in dieser Zeit bisweilen den Eindruck einer Organisation ohne Eigenschaften: unpersönlich, unsicher und irgendwie auch unglücklich.
Von Wasserratten und Edelweißwächtern
Die Sanitätskolonnen wenden sich nach dem Wegfall der Kriegsaufgaben umso stärker dem Rettungswesen und dem Krankentransport zu. Eine Wachstumsbranche, da die Unfälle im Straßenverkehr und in der Industrie rapide zunehmen. Entsprechend verdreifacht sich die Zahl der Rettungswachen und Unfallmeldestationen binnen zehn Jahren auf rund 30000. Immer mehr Krankentransportwagen werden angeschafft. Im Straßenrettungsdienst kommt es zu einer Zusammenarbeit mit dem ADAC , der für die technische Hilfe zuständig ist, während die Rotkreuzkräfte die medizinische Erste Hilfe übernehmen. Auch die Zahl der Einsätze auf Volksfesten, Großkundgebungen, Sportveranstaltungen und im Theaterdienst steigt deutlich an. Parallel widmen sie sich der Ausbildung in Erster Hilfe, sie kommen verstärkt im Gebirge und an Gewässern zum Einsatz, sie helfen bei Naturkatastrophen und Massenunfällen.
Über den Alltag auf einer Sanitätswache hat G. Papperitz aus Bautzen einen gut gelaunten Bericht hinterlassen. Wenn er um acht Uhr morgens die Nachtschicht ablöst, vergewissert er sich, dass Verbandsschrank und Geräte in Ordnung sind und dass der Krankenwagen und die Rolltragen im Schuppen bereitstehen. Nach zehn Minuten geht der erste Anruf ein: »Blinddarmdurchbruch! Transport ins Krankenhaus.« Papperitz verständigt zwei Sanitäter, die eilends in Uniform erscheinen. Der Fahrer hat den Wagen unterdessen zum Hof hinausgefahren, und so sausen sie davon, begleitet von der grellen Fanfare der Sanitätshupe.
Der nächste Fall: Vom nahen Bahnhof bringen zwei Schutzleute einen humpelnden Herrn, der sich beim Aussteigen aus dem Zug den Fuß vertreten hat. Papperitz lässt ihn mit der fahrbaren Trage
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