Im Zeichen der Menschlichkeit
Nürnberger Sanitätskolonne schließlich einen Paralleltarif ein: Für einen innerstädtischen Krankentransport veranschlagt sie den Gegenwert von einem halben Liter Bier zum Tagespreis, außerstädtisch von einem ganzen Liter.
In der Rotkreuzklinik in Würzburg bringt Hedwig Tauber im Herbst 1923 ein gesundes Kind zur Welt. Ob Mädchen oder Junge, das geht aus der Rechnung nicht hervor. Dafür aber die Kosten für den Krankenhausaufenthalt: Am 12. Oktober beträgt der Tagessatz für die Verpflegung 85 Millionen Mark, am 14. Oktober 220 Millionen, am 16. Oktober dann 300 Millionen und am 19. Oktober schließlich 1,4 Milliarden Mark. Für ein vermutlich trotzdem freudiges Telefongespräch fallen weitere zehn Millionen an. Insgesamt bezahlt sie für den achttägigen Aufenthalt fast 4,5 Milliarden Mark, die eine Schwester Emilie mit »dankend erhalten« quittiert.
Auch Hertha Nathorff tritt ihren Dienst als leitende Ärztin eines Entbindungs- und Säuglingsheims in Berlin-Lichtenberg mitten in der Inflationszeit an. »›Freilich wollen Sie mir fast ein wenig jung sein‹, sagte mir die Dezernentin. ›Dieser Fehler wird ja mit jedem Tag besser‹, gab ich ihr zur Antwort und begann meine Tätigkeit voller Begeisterung am 1. April 1923.« Nathorff unterstehen eine Oberschwester, acht Schwestern und eine Hebamme. »Ein Heim für alle wollte ich.« Es soll Müttern und Kindern ein geschütztes Zuhause bieten und ihnen einen kleinen Nebenverdienst ermöglichen, indem sie in den angeschlossenen Werkstätten Wäsche, Kleidung und Handarbeiten fertigen. Hierfür hat das Rote Kreuz zwei Villen in einem Park gemietet. Es ist ein Frauenhaus mit zunächst dreißig Betten – nur der Pförtner und der Gärtner sind Männer. Im ersten Jahr kommen dort 147 Kinder zur Welt. Streiks und Stromausfälle behindern mehrfach die Arbeit. »Beim Schein einer armseligen Kerze habe ich manche operative Entbindung durchführen müssen«, berichtet Nathorff. Viele der Frauen sind ohne Berufsausbildung, und viele der Kinder kommen unehelich zur Welt. »Unsere Akten sind Romane von Frauenschicksal und Frauenleid, von getäuschtem Vertrauen, häuslichem Elend, Unwissenheit und Hilflosigkeit.« Zwei Jahre später bringt Frau Doktor, zur allgemeinen Freude der Belegschaft, dort auch ihr eigenes Kind zur Welt, nachdem sie bis kurz vor der Niederkunft noch gearbeitet hat. Mittlerweile verfügt die Klinik über zweihundert Betten, auch städtische Pflegekinder werden ihr vermehrt anvertraut. Dennoch löst sich das Rote Kreuz schließlich auch hier von einem vielversprechenden Sozialprojekt, das ihm wohl zu progressiv erscheint, um es auf Dauer zu halten. Unter Aufbietung aller Kräfte betreiben Nathorff und ihre Mitstreiterinnen das Heim noch einige Jahre in eigener Regie.
Von Kindern umringt: An einem Stand in Saarbrücken gibt das Rote Kreuz Anfang der zwanziger Jahre Milch an Bedürftige aus.
© DRK
Eine weitere Protagonistin der Weimarer Zeit ist die bekannte Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Alice Salomon. Ihr Pionierprojekt, die Berliner Soziale Frauenschule, stellt sie unter den Schirm des Roten Kreuzes. Bewährte Kräfte werden hier zu hauptamtlichen Wohlfahrtspflegerinnen fortgebildet, neue als Nachwuchs herangezogen. Nach Salomons Überzeugung sollen die sozialen Berufe den Frauen nicht bloß Beschäftigung, sondern Lebensinhalt sein. Anders als in der konfessionellen Sozialarbeit legt sie dabei auch großen Wert auf eine gesellschaftswissenschaftliche Fundierung der Ausbildung. In den klassischen Rotkreuzressorts ist diese Tendenz zur Professionalisierung ebenfalls im Gange. Bereits 1903 war in München eine Oberinnenschule gegründet worden, die Frauen für leitende Funktionen fortbildete, als dies in vielen Bereichen noch undenkbar war. Sie wird 1927 in Berlin als Werner-Schule neu belebt. Später zieht sie nach Göttingen, wo sie noch heute als zentrale Bildungseinrichtung für Pflegeberufe besteht.
Die Mittelstandsfürsorge bildet einen weiteren Schwerpunkt. So mietet das Rote Kreuz in Schwerin beheizte Aufenthaltsräume an, in denen auch ein Kosttisch für arme Rentnerinnen geführt wird. In Stettin gewährt es Lebensmittelhilfe »auf Grundlage vertraulicher Erhebungen«, man schämt sich der mühsam kaschierten Not. In Heidelberg verkauft der Frauenverein Möbel, Schmuck und Bilder »zu angemessenem Preis«, in der Eisenacher »Flickstube« schneidern Frauen gegen Stundenlohn, in Baden-Baden verdienen sie sich gar als
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