Im Zeichen der Menschlichkeit
Da sich zahlreiche Staaten an der Hilfsaktion beteiligen, dient sie zugleich der Integration in die Weltgemeinschaft. Der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen übernimmt die Federführung, und das Genfer Komitee wird zu einem der wichtigsten Akteure. Es ist die erste weltweite Spendenaktion modernen Stils. Medien sind nun wichtiger als Monarchen, nicht die Eliten sollen angesprochen werden, sondern die Massen.
Für das neue, noch nicht ganz sattelfeste kommunistische Regime erweist sich die Hungersnot als eine vorteilhafte Katastrophe. Geschickt nutzt es die internationale Hilfsbereitschaft für seine Zwecke aus; Lenin hat nicht umsonst in der Schweiz gelebt. Tatsächlich ist die Tragödie weitgehend hausgemacht. Während tonnenweise Hilfsgüter in das gequälte Land strömen, führt die Sowjetunion gleichzeitig im großen Stil Getreide aus. Die Hilfe erhält sie umsonst, für die Exporte gibt es Devisen. Zehn Jahre später wendet die Staatsmacht diese Strategie bei der nächsten Hungersnot erneut an. Mittlerweile hat sich der Terror der Zwangskollektivierung weiter gesteigert, und noch brutaler als in der ersten Krise wird der Hunger als Druckmittel gegen die Abspaltung der Ukraine eingesetzt. Mit Katastrophen wird Politik gemacht. Die vielbeschworene Neutralität der Helfer erweist sich dabei oft genug als Illusion; sie stehen nicht außerhalb der Politik, sind vielmehr ein begehrtes Medium derselben und werden von allen Beteiligten instrumentalisiert. Die russischen Notstände sind nur das erste Beispiel einer langen Reihe, die über Biafra bis hin zu Simbabwe und Darfur führt.
Die deutschen Gebietsverluste ziehen große Flüchtlingsströme nach sich. In dieser Baracke für Umsiedler aus Westpreußen werden Kleider und Hilfsgüter verteilt.
© DRK
Als Folge der Not übersiedeln Zehntausende deutschstämmiger Russen ins Deutsche Reich. Das bereits weit über eine Million Flüchtlinge integrieren muss, vor allem aus den nun polnischen Gebieten Westpreußens und Oberschlesiens sowie aus Elsass-Lothringen, in kleinerem Umfang auch aus den Kolonien, aus dem Saarland und aus Nordschleswig, das nun wieder an Dänemark gefallen ist. Das Deutsche Rote Kreuz betreibt zwanzig große Flüchtlingslager, in denen die Neuankömmlinge verpflegt und mit Kleidung versorgt werden. Zu diesen Menschenströmen kommen während der Ruhrbesetzung im Jahr 1923 noch Zehntausende von innerdeutschen Flüchtlingen sowie die letzten Heimkehrer aus der Gefangenschaft.
Elsa Brändström steht diesen schwer geprüften Männern weiterhin aufopferungsvoll zur Seite. »In Sibirien habe ich so unendlich viel qualvolles Sterben gesehen. Tag und Nacht sahen die Männer Frau und Kind vor sich stehen, und die Verzweiflung darüber, daß sie diese allein zurücklassen mußten, machte den Todeskampf bitter.« Sie hat ihnen versprochen, sich der Hinterbliebenen anzunehmen. Um diese »heilige Last« zu erfüllen, unternimmt sie eine lange Vortragskampagne durch die Vereinigten Staaten und trommelt so viel Geld zusammen, dass sie drei große Hilfseinrichtungen gründen kann. Im sächsischen Marienborn richtet sie ein Sanatorium für Kriegsheimkehrer ein, in Schloss Neusorge unweit von Chemnitz nimmt sie Kinder ehemaliger Gefangener auf, zur Erholung wie auch auf Dauer. Und das Gut Schreibermühle bei Lychen in der Uckermark soll traumatisierten Heimkehrern »Ferien vom Ich« gewähren. Gräfin Üxküll, ihre Freundin und Weggefährtin, steht ihr erneut zur Seite. Es ist ein großer Segen.
Ein Anruf für zehn Millionen
Nachdem das Deutsche Reich seinen Reparationszahlungen nicht hinreichend nachkommen kann, marschieren französische und belgische Truppen 1923 ins Ruhrgebiet ein. Damit beginnt eine Art Krieg im Frieden. Die Situation ist völkerrechtlich schwierig zu bewerten, weshalb die Genfer Konvention nur bedingt anwendbar scheint. Als die Bevölkerung Widerstand leistet, sperren die Besatzer viertausend politische Gefangene ein. Kommissare des Deutschen Roten Kreuzes erhalten Zutritt zu ihnen und können zumindest mildere Haftbedingungen und eine gewisse moralische Unterstützung erreichen. Joachim von Winterfeldt lässt es sich nicht nehmen, hierbei selbst als Delegierter zu wirken.
Im Gefolge der Ruhrkrise schlittert das Land dann in die nächste Katastrophe: Die große Inflation erfasst Deutschland wie eine Lawine. Die Auswirkungen belasten auch die Rotkreuzarbeit. Statt täglich mit neuen Millionenbeträgen zu rechnen, führt die
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