Im Zeichen der Menschlichkeit
nach Hause bringen. Da schrillt das Telefon erneut. Ein Radfahrer ist in der Kurve gestürzt und liegt bewusstlos am Boden. Der Wachhabende alarmiert einen weiteren Helfer, der mit einem Verbandskasten und der zweiten Trage davoneilt. Kurz darauf betritt ein Reisender mit zwei Koffern die Wache: »’N Morjen, Herr Doktor. Heftige Leibschmerzen, höchste Zeit, bitte ein paar Baldriantropfen. – So – danke! Kostenpunkt? So – freiwillige Gabe in die Büchse. Na, ’n Morjen!« Kaum melden sich die Männer mit dem Krankenwagen und den Tragen zurück, schrillt ein neuer Anruf: »Um Himmels willen, kommen Sie sofort, in unserem Hause ist ein Erhängter aufgefunden worden. Vielleicht ist er noch zu retten.« In kurzer Zeit sind zwei Helfer mit einem Wiederbelebungsgerät zur Stelle. Vergeblich. »Die Frau steht mit den unmündigen Kindern an der Bahre des Gatten, den schwere Geschäftssorgen in den Tod getrieben haben.« Papperitz trägt alle Vorkommnisse ins Wachtbuch ein: »Krankenwagen mit zwei Mann zur Überführung eines Geisteskranken.« Um acht Uhr ist dann Schichtwechsel, doch als Wachhabender bleibt er bis zum nächsten Morgen. Und verarztet noch eine ältere Bäuerin, der eine Ader am Bein geplatzt ist. Ihr Mann holt sie schließlich mit dem Pferdegespann ab. Zu guter Letzt schneit noch eine Nachtschwärmerin mit Bubikopf herein und fleht um ein Mittel gegen Zahnschmerzen. Während die Männer sich schließlich auf ihren Pritschen ausstrecken, leuchtet draußen vor der Wache hell und verlässlich die Laterne mit dem Roten Kreuz.
Die Einführung des Achtstundentages, die Erfindung der Freizeit, der Ausbau der Verkehrsnetzes und nicht zuletzt ein lebenshungriger Zeitgeist, der nach all den Kasteiungen des Krieges nach Natur, Genuss und heiler Welt verlangt – all diese Entwicklungen führen Anfang der zwanziger Jahre zu einem Sturmlauf auf Berge, Seen und Strände. Mit dem Aufenthalt von immer mehr Menschen in der Natur steigt zwangsläufig auch die Zahl der Notfälle. Ausgerechnet dieser vermeintlich unkriegerische Bereich verschafft dem Roten Kreuz neue Aufgabenfelder. Wobei Elemente des Militärischen durchaus vorhanden sind, ob im Tourismus, im Sport oder in der Jugendbewegung. Auch dabei spielen Eroberung, Gemeinschaftserlebnis und Gefahr eine wesentliche Rolle. Mit seiner logistischen Erfahrung, seiner Fähigkeit zur schnellen Mobilisierung und seiner flächendeckenden Präsenz kann das Rote Kreuz solche Aufgaben durchaus übernehmen.
Heute gehören sowohl die Berg- als auch die Wasserwacht zu seinen größten und populärsten »Gemeinschaften«, wie die ehrenamtlichen Gruppierungen genannt werden. Ihre Entstehungsgeschichte aber ist verwickelt, ist abhängig von Zufällen, örtlichen Umständen, prägenden Persönlichkeiten und den politischen Rahmenbedingungen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wird sich die Bergwacht als »Sonderformation« ins Bayerische und später auch ins Deutsche Rote Kreuz einreihen. Zuvor sind es im Wesentlichen drei Organisationen, welche die Rettungsarbeit im alpinen Gelände leisten: der Alpenverein, die eigentliche Bergwacht und der Gebirgsrettungsdienst des Roten Kreuzes. Zwischen diesen drei Gruppierungen gibt es eine Fülle von Gemeinsamkeiten, aber eine noch größere Fülle von Rivalitäten. Die dann noch von internen Streitigkeiten und von der Konkurrenz mit lokalen Vereinen überlagert werden. Die Geschichte der Bergwacht verläuft mindestens so labyrinthisch wie die Topographie der Alpen.
Rettung im Gebirge: Sanitätskolonne bei einer Großübung (links). Zu den Aufgaben der Bergretter gehört von Beginn an auch der Naturschutz.
© DRK
Bereits um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden vom Alpenverein zahlreiche Rettungs- und Meldestellen eingerichtet. In Sachsen hat der Bergsteigerbund 1912 eine Samariterabteilung ins Leben gerufen. Auf diese Infrastruktur aufbauend, entsteht von 1920 an die Bergwacht. Gegründet wird sie in einer »geistigen Hochburg des Alpinismus«, dem Münchner Hofbräuhaus. Sie tritt an, »um die Reinheit der Natur zu wahren und das Eigentum der ansässigen Bevölkerung zu schützen«. Denn die vermeintlich heile Welt der Berge ist bedroht. Mit der Invasion der Flachlandtiroler geht ein »Verfall der Sitten« einher; Diebstähle, Vandalismus, Wilderei und Naturfrevel häufen sich. Die Hütten drohen »zu Trink- und Tanzbuden erniedrigt zu werden«. Besonders arg treiben es die Edelweißräuber; die Plünderung der geschützten Bestände
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