Im Zeichen der Menschlichkeit
Verwandten. Es hätte auffallen können, dass deren Wohnsitze sich nach dem immergleichen Muster ändern, bis sie schließlich als »unbekannt verzogen« gemeldet werden. Im April 1943 berichtet die Berliner Dependance: »Es gibt keine Spur von den 10000 Juden, die Berlin zwischen dem 28.2. und dem 3.3. verlassen haben. Man nimmt an, dass sie heute tot sind.« Viel Beachtung schenkt man ihren Mitteilungen in Genf jedoch nicht, und auch den späteren Bericht über Theresienstadt bekommen lediglich drei Herren zu lesen.
Obwohl Hartmann 1943 brieflich versichert, dass »die Versorgung in den Lagern als vollkommen ausreichend bezeichnet wird«, schickt das Komitee von nun an in großem Stil Pakete in die Konzentrationslager. Sie wiegen zwei bis drei Kilogramm und enthalten Kekse, Suppenwürfel, Dosengulasch und Marmelade. Da das Rote Kreuz jedoch keinen Zutritt zu den Lagern hat, hat es auch keine Möglichkeit, den Verbleib der Pakete festzustellen, geschweige denn den der Empfänger. Gleichwohl werden die Pakete von allen Beteiligten als Erfolg angesehen. Für die Empfänger bedeuten sie eine wertvolle Aufbesserung ihrer Hungerrationen. Für die SS entlasten sie die Kassen. Und das Internationale Komitee muss sich nicht länger Untätigkeit vorwerfen lassen.
Von allen relevanten Institutionen ist das Rote Kreuz noch mit am besten über die Verbrechen an den Juden informiert. Viele Quellen strömen hier zusammen: Berichte entflohener Häftlinge, aus den Lagern geschmuggelte Kassiber, Briefe von Angehörigen, zahllose Zeitungsartikel aus aller Welt und die Zeugnisse mutiger Zeitgenossen. All diesen Quellen zum Trotz beharrt das Komitee darauf, es könne nur Berichten seiner eigenen Delegierten vertrauen. Wie es jedoch um deren Urteilsvermögen bestellt ist, zeigt sich bei den beiden Inspektionen in Theresienstadt. Es kostet Überwindung, die unbedarften und fehlgeleiteten Berichte der Delegierten heute zu lesen. Deshalb sei hier eine verlässlichere Zeugin zitiert. Knapp drei Jahre lang arbeitet Resi Weglein als Krankenschwester im Lager. Die Jüdin aus Ulm wird einer kleinen Station zugeteilt, doch im Grunde erweist sich ganz Theresienstadt als »ein großes Lazarett. Soviele Sieche und Krüppel hat wohl nicht ein Ort der Erde auf einmal aufweisen können«, schreibt sie in ihren Erinnerungen. Allein an chronischen Durchfällen sterben bis zu 5000 Menschen im Jahr, doch monatelang erhalten die Insassen nicht einmal Klopapier. Da eine solch hinfällige Bewohnerschaft in hoffnungslos übervölkerten Quartieren jedoch einen ungünstigen Eindruck auf die Rotkreuzdelegation machen könnte, werden kurz vor deren Ankunft 7500 Menschen nach Auschwitz geschafft.
Der Kontrollbesuch gilt vornehmlich einer Gruppe von Juden aus Dänemark, für welche die Regierung des besetzen Landes, angefangen beim König, sich beharrlich einsetzt. Genau für solche Fälle ist das »Vorzeigeghetto« angelegt worden. Nach einer Vorinspektion durch Hartmann verordnet die SS Theresienstadt eine wochenlange »Verschönerungsaktion«. In Akkordarbeit müssen die Häftlinge die Wände streichen, die schadhaften Dächer decken und die Gehsteige waschen. Ein Musikpavillon, eine Kurpromenade mit Bänken und sogar eine Synagoge werden errichtet, wenn auch nie benutzt. Für die angebliche Schule genügen ein paar Lettern über der Tür eines Krankenhauses, da der Termin bewusst in die Ferien gelegt worden ist. So fällt es auch nicht auf, dass die Insassen kaum über Winterkleidung verfügen, dass viele Räume keine Fensterscheiben haben und manche nicht einmal Öfen. Der Parcours, den die Delegation zu absolvieren hat, wird so minuziös geprobt wie eine Theaterpremiere. Für die Dauer des Besuchs braucht den Aufsehern kein Hitlergruß entboten zu werden. »Das Beste für uns war – wir bekamen doppelte Ration. Die Kinder durften für diese zwei Tage den Spielplatz benutzen«, erinnert sich Resi Weglein.
Dann erscheint die Kommission: je ein Abgesandter des gleichgeschalteten Dänischen Roten Kreuzes, des DRK und des Internationalen Komitees. Dazu ein Vertreter des dänischen »Außenministeriums« und ein ganzer Pulk von SS -Leuten und Offiziellen. Wie erwartet ist es ein herrlicher Sommertag; selbst das Wetter betreibt Propaganda. Damit sich möglichst wenige persönliche Begegnungen ergeben, werden die Delegierten in Autos herumchauffiert. »Unser Erstaunen war groß, im Ghetto eine Stadt zu finden, die fast ein normales Leben führt«, resümiert der
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