Im Zeichen der Menschlichkeit
nicht zuständig. Von weiteren Anfragen sei abzusehen, »um nicht durch Befassung des Roten Kreuzes mit Judenangelegenheiten dessen eigene Aufgaben herabzuwürdigen«.
Aufgrund solcher Zusammenhänge kommt die jüngst erschienene monumentale Enzyklopädie der Medizingeschichte zu dem Urteil: »Das Rote Kreuz war tief ins nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt und im Grunde eine straff durchorganisierte Unterorganisation der SS .« Dass die systematische Durchdringung mit SS -Führern die Militarisierung der Hilfsorganisation vorantreiben soll, ist offenkundig. Doch umgekehrt soll sie auch eine »Humanisierung« der SS bewirken, indem sie als Alibi, als Tarnorganisation für deren Untaten dient. Wer würde schon hochrangige Vertreter des Deutschen Roten Kreuzes des Massenmords bezichtigen?
Im Park der berühmten Heilstätten von Hohenlychen trainieren Kriegsinvaliden 1941 mit Beinprothesen.
© E. Kind / DRK
Ein solcher Fall betrifft auch den Leiter des Lungensanatoriums von Hohenlychen, Kurt Heißmeyer. Für seine Habilitation infiziert er über hundert Kriegsgefangene mit Tuberkulose. Ende 1944 fordert er über den DRK -Generalhauptführer und SS -General Oswald Pohl zusätzlich zwanzig Kinder aus Auschwitz an. Im Lager Neuengamme werden sie mit Bakterien infiziert und mit medizinischen Experimenten gequält. Zwei Wochen vor Ende des Krieges erhängen die SS-Ärzte sie in einer Hamburger Schule, zusammen mit vier Betreuern und zwanzig weiteren Gefangenen. Nach einem von Heißmeyers Opfern, der damals elfjährigen Bluma Mekler, ist heute ein Kindergarten des Roten Kreuzes in Hamburg benannt. Zu DDR -Zeiten betreiben die Russen Hohenlychen dann als Militärhospital. In unmittelbarer Nähe lagern sie Atomsprengköpfe. Nach der Wiedervereinigung stellt das Deutsche Rote Kreuz einen Antrag auf Rückgabe, der jedoch unter Verweis auf die sowjetische Enteignung abgelehnt wird. Das Land Brandenburg spekuliert auf einen potenten Investor – und bekommt Hohenlychen zwanzig Jahre lang nicht verkauft. Mit dem Ergebnis, dass die Anlage, welche die Russen in passablem Zustand übergeben haben, heute nur mehr eine Ruine ist. Auf den Fluren türmen sich Schutt, Scherben und Laub. Moos polstert die Fliesen der Operationssäle, im Winter hängen dicke Eiszapfen von den Zimmerdecken. Der aufgeplatzte Lack überzieht Türen und Wände wie Wundschorf, die Dächer sind geborsten, die Fenster mit Plastik notdürftig abgedeckt. Einst eines der Flaggschiffe des deutschen Gesundheitswesens, hat man Hohenlychen, wie der polnische Literat Andrzej Stasiuk es in Worte fasst, »der Zeit zum Fraß vorgeworfen«.
»Schon wieder Schokolade«
Den traurigen Tiefpunkt in der Geschichte des Roten Kreuzes, ein Anti-Castiglione, bildet seine weitgehende Taten- und Wirkungslosigkeit angesichts der Vernichtung der europäischen Juden. Rein formal ist es zu keinem Beistand verpflichtet, da die Regierungen trotz jahrzehntelanger Bestrebungen bis Kriegsbeginn kein Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung zustande gebracht haben. Dennoch bleibt festzustellen, dass die größte humanitäre Organisation der Welt inmitten der größten humanitären Katastrophe der Welt versagt hat. Die Gründe dafür sind nicht ohne Weiteres auszumachen. Eine Rolle spielt sicher die Angst vor einer Besetzung der Schweiz. Im Juni 1940 endet die deutsche Frankreich-Offensive erst vor den Toren Genfs, seither ist das Land von faschistischen Staaten umzingelt. Doch es bleibt unversehrt, und die Organe des Roten Kreuzes können ihre Arbeit ungestört fortführen. Wenn heute von Kriegsschäden an der Kathedrale die Rede ist, bezieht sich das auf das Jahr 1291.
Ein zweiter Grund ist die systematische Desinformation durch die deutschen Behörden und das DRK . Im Dezember 1939 teilt Hartmann dem Komitee mit, dass die Deportationen eingestellt worden seien. Einige Monate später fordert er es dann auf, keine Anfragen zu den Konzentrationslagern mehr zu stellen. Zuvor hat Eichmann erklärt, dass derartige Auskünfte »eine nicht mehr zu rechtfertigende Belastung« der Behörden darstellten. Weder die Vertreibung der Juden noch die Deportationen sind als solche ein Geheimnis. Immerhin residiert die Berliner Delegation des Komitees selbst in einer Wilmersdorfer Villa, deren jüdische Eigentümer außer Landes fliehen mussten. Und von Chicago bis Schanghai korrespondieren Zehntausende emigrierter Juden über das Rote Kreuz mit ihren in Deutschland zurückgebliebenen
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