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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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haltspendenden Blick gebraucht hatte, der an dem Gebrechen vorbei ins Innere drang, wo eine Seele nach Trost schrie. Sein Zorn auf die gleichgültige Krankenschwester war gleichermaßen auch von seinen eigenen Unzulänglichkeiten befeuert, deren größte seine Unfähigkeit war, Louise von jener auszehrenden Krankheit zu erretten, für die es keine Heilung gab und die sie in unmerklichen Schritten immer weiter von ihm entfernte. Wie lange war es jetzt her, daß sie wirklich Mann und Frau gewesen waren? Drei Monate? Vier?
    Im Südosten kamen die Werften des Marinestützpunkts Portsmouth in Sicht. O Gott, so viele Nachmittage hatte er dort als frischgebackener Mediziner verfaulenzt und aus dem Fenster seines Ordinationszimmers den Kanonenbooten dort unten im Hafen bei ihren Manövern zugeschaut.
    Wenn man in sechs Monaten nur einen Patienten behandelt, hat man kaum etwas anderes zu tun als dazusitzen und den Kanonenbooten zuzuschauen. Fast zehn Jahre war es her, daß er nach der Sache mit den Sieben dorthin gezogen war. War das möglich?
    Eine Hut von Erinnerungen brach los: der kleine Innes -damals gerade zwölf –, der in jenem Sommer als Empfangsdiener bei ihm gearbeitet hatte; mit frischem Gesicht hatte er in seinem steifen blauen Anzug voller Eifer auf Patienten gewartet, die nie kamen. Die warme Morgensonne, die träge Zoll für Zoll über die Küchenwand ihres Häuschens in Southsea gekrochen war. Der beißende Geruch der Kerosinlampe auf seinem Schreibtisch aus Rotahorn, an dem er die Nächte hindurch unaufhörlich geschrieben und geschrieben und von dem neuen Leben geträumt hatte, das seine Arbeit ihnen vielleicht bescheren würde. Das winzige Schlafzimmer, in dem ihre Erstgeborene, Mary, gezeugt und geboren worden war. Lachend hatte er Louise hier über die Schwelle getragen, als ihre Ehe eben erst begonnen hatte, in sprudelndem Überschwang von jugendlicher Ahnungslosigkeit, Empfindungsreichtum und blindem Vertrauen.
    Der Horizont verschwamm, und sein Blick trübte sich - darfst jetzt nicht an sie denken; komm schon, alter Junge, Kopf hoch.
    Passagiere erfüllten die Decks unter ihm. Aufgeregtes Geplapper. Das Schiff schien vollbesetzt zu sein. Deutsche hauptsächlich. Gutbetucht. Nur zwei Dutzend Engländer waren in Southampton an Bord gekommen. Die Elbe aus Bremen, ein deutscher Dampfer des Norddeutschen Lloyd, ein völlig neuartiges Schiff. 9000 Tonnen. Zwillingsschrauben. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von siebzehn Knoten zog sie zügig durch die harte graue Kabbelung des Kanals. Die Erste Klasse bot Quartier für zweihundertfünfundsiebzig Personen; es gab nur fünfzig Kabinen Zweiter Klasse. Makellos und diszipliniert die Besatzung. Die deutschen Linien hatten fast ein Monopol auf den Handelsrouten nach Nordamerika. Von den Deutschen erwartete man ein hohes Maß an Professionalismus; eine Nation auf dem Vormarsch …
    Auf einem der unteren Decks gewahrte er Innes. Jemand drängte sich an ihn heran, drückte ihm eine Karte in die Hand, aber es war schwer, den Mann aus diesem Blickwinkel zu erkennen – oh Gott, es war allem Anschein nach Ira Pinkus.
    »Fahren Sie in die Heimat oder nehmen Sie Abschied von ihr?«
    Doyle fuhr herum; er hatte sich allein an der Reling gewähnt. Der Mann stand drei Schritte von ihm entfernt, dickbäuchig und rotgesichtig. Ein schütterer Kranz von graugesträhntem roten Haar. Ein graumelierter Backenbart. Schätzungsweise fünfzig. Irischer Zungenschlag.
    »Ich reise ab«, sagte Doyle.
    »Langen Reisen gehen oft traurige Abschiede voraus«, sagte der Mann.
    Doyle nickte in höflicher Zustimmung. Ja, irisch. Der Mann verlagerte sein Gewicht, schaute aber weiter aufs Meer hinaus. Doyle sah den Priesterkragen und die schweren Stiefel; ein schwarzer Rosenkranz mit einem Kruzifix hing aus der Tasche. Verdammt, das letzte, was er jetzt hören wollte, war die hohle, unerbetene Predigt eines katholischen -
    »Manchmal sind die Freuden der Trauer schöner als selbst die Freuden der Freude«, sagte der Priester. »Etwas Neues ist in uns gekommen. Wir können das Unbekannte ohne Vorurteil oder vorgefaßte Meinung betrachten. Es als Gelegenheit willkommen heißen. Und womöglich finden wir uns auf unerforschtem Gelände wieder, an einem Ort, der dem Herzen des schrecklichen Geheimnisses dessen, was wir in Wirklichkeit sind, ein Stück näher ist.«
    Der warme Tonfall des Mannes hatte den tiefen Klang der Wahrhaftigkeit. Dies war nicht das übliche fromme Gefasel; echtes Mitgefühl

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