Im Zeichen der Sechs
Tage vergingen – wie abhängig ist unsere Wahrnehmung der Zeit doch vom Zyklus des Lichtes und der Dunkelheit –, aber meine Kräfte waren so weit wiederhergestellt, wie es ohne Nahrung möglich war, und bald würden sie vergehen. Ich setzte alles auf einen letzten Versuch.
Ich ließ mich in den Fluß fallen, tauchte in die tiefe Mitte hinaus und ließ den Punkt, von dem aus ich ungefährdet zurückkehren konnte, hinter mir. Das Leben im Dunkeln hatte meine anderen Sinne vorzüglich geschärft; ich konnte die feinsten Unterschiede im Fließen des Wassers wahrnehmen, und so ließ ich mich vom Fluß führen: Durch Kämpfen war nichts zu gewinnen. Minuten vergingen; die Luft wurde knapp, und ich war kurz davor, aufzugeben. Wie verlockend, alles loszulassen … In diesem Augenblick sah ich Licht im Wasser, und ich stieß mich mit meinen letzten Reserven voran. Ich verlor das Bewußtsein, als ich die Oberfläche durchbrach, und trieb ans Ufer. Dort erwachte ich, in einem Bett aus Binsen wie ein altertümlicher Moses, mitten in der Nacht, an einer entlegenen Biegung des Flusses.
Als ich zu mir kam, erkannte ich auch, daß sich etwas überaus Merkwürdiges ereignet hatte. Alle Sorgen, alle Lasten, die mich zu diesem Augenblick gebracht hatten, waren verschwunden. Ich erinnerte mich in allen Einzelheiten, wie ich abgestürzt war und warum, aber es kümmerte mich nicht mehr. Statt dessen fühlte ich mich leicht, befreit, von der Schwerkraft erlöst. Von meiner Familie, meinem Bruder, meinen privaten Qualen. Ich höre, was Sie denken, Doyle: Er hat unter Sauerstoffmangel gelitten. Hirnschaden. Glauben Sie, was Sie wollen; was ich in der Höhle durchgemacht hatte, war nicht weniger als eine Wiedergeburt gewesen. Die Chance, ein neues Leben zu schaffen. Jack Sparks’ leblose Last glitt von mir ab wie die Haut einer Schlange: Wenn jedermann dachte, der Mann sei tot – und warum auch nicht? Ein schrecklicher Sturz, glaubwürdige Zeugen … dann wäre es ein Kinderspiel, ihnen den Gefallen zu tun.
Ich sah die Sterne am Nachthimmel über mir zum ersten Male ungetrübt von meiner eigenen Verzweiflung: eine innere Objektivität, die ich niemals für möglich gehalten hatte – Stein, Wasser, Baum, Wiese, Mond, jedes Ding, das ich sah, war allein dieses Ding und nicht irgendein Schatten, verfärbt von meinen inneren Dämonen –, die Befreiung von allen irdischen Verpflichtungen, allen nachklingenden Alpträumen. Eine Stimme sprach in meinem Kopf, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Hier entlang, sagte sie, folge mir. Klar und beruhigend, verhieß sie einen Frieden, den ich nie gekannt hatte. Ich lauschte.
Ich wanderte die ganze Nacht durch ein Alpental und folgte dem Fluß. Ich sorgte mich nicht um den richtigen Weg; ich ging sicher, mit jedem Schritt. Und tatsächlich stieß ich auf eine verlassene Hütte, den Unterstand eines Schäfers, wohlbestückt mit Vorräten. Dort blieb ich, bis die Nahrung aufgezehrt war. Mit neuen Kräften, und geleitet von der Stimme, wanderte ich zweihundert Meilen weit nach Süden, durch die Dolomiten hinunter nach Padua und schließlich nach Ravenna am Adriatischen Meer. Der Frühling regte sich in der Luft. Ich fand eine Anstellung als Hafenarbeiter und nahm mir ein Zimmer am Kanal. Aß jeden Abend im selben Cafe: schwarze Oliven, dickes, dunkles Brot, Rotwein. Viel Rotwein.
Ich hatte mein ganzes Leben darauf verwandt, meinen Bruder zu jagen, und deshalb hatte ich keine Ahnung, daß dies das Leben war, das die meisten Menschen führen. Sie arbeiten, essen, schlafen, lieben. Kümmern sich niemals um Aspekte des Lebens, die sie nicht in der Gewalt haben -Sinn, Zweck. Nie stellen sie Fragen; es ist ja so viel leichter, das alles in den Händen eines Brotherrn oder der Kirche oder des Steuereintreibers zu lassen. Sie existieren von einem Tag zum andern; als Teil der Landschaft entfernen sie sich nie weit von dem Boden, der sie hervorgebracht hatte. So offensichtlich – aber für mich eine völlig neue Vorstellung. Das Leben unter ihnen verhalf mir dazu, wahre Gnade zu erfahren. Tage wurden zu Monaten, der Frühling verwandelte sich in Sommer und dann in Herbst. Ich arbeitete jeden Tag bis zur körperlichen Erschöpfung, schlief mit so vielen Frauen, wie ich nur konnte, und sorgte mich um rein gar nichts.
Da ich die Fesseln all dessen abgeworfen hatte, was ich einst gewesen war, konnte ich nun werden, was immer ich wollte: Was sind wir denn, wenn nicht das, was wir zu sein glauben? Eines
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