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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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nicht besser als der ganze Rest; allem, was Sie nicht annähernd verstehen können, geben Sie einen Namen, um die Dunkelheit zu vertreiben. Die nächstbeste Zuflucht für einen Feigling. Es gab eine Zeit, da konnte ich von Ihnen mehr erwarten als das papageienhafte Nachplappern leerer Sprüche. Oder war der Erfolg für den besseren Teil Ihres Verstandes ebenso verführerisch wie für Ihren Geldbeutel? Vielleicht liegt es daran. Noch haben sie Sie nicht niedergemacht; noch sind Sie ein frisches Gesicht, trunken von der Anbetung der Massen. Aber halten Sie sich bereit, Doyle; die Abrechnung wird kommen. Sie ertragen es nicht lange, wenn einer der ihren Erfolg hat. Alle hohen Mohnblumen werden irgendwann abgeschnitten.«
    Der Zug kam aus dem Tunnel; das Licht flackerte wieder auf. Jack saß nur wenige Handbreit entfernt, den Blick fest auf Doyle gerichtet, der nicht wußte, wie er seine Angst und seinen Abscheu verhehlen sollte. Zweifel krochen in ihm herauf. Die Krankheit dieses Mannes war nicht nur eine Krankheit des Geistes, sondern eine der Seele, und in ihrer Tiefgründigkeit beeinträchtigte sie seine Fähigkeit, zu reagieren. Woher kam sie? Was hatte sie verursacht? Er mußte seine Fragen vorantreiben. »Wenn Sie in solche Not gekommen sind, warum haben Sie sich dann nicht … das Leben genommen?«
    Jack lehnte sich zurück, zuckte die Achseln und schnippte sich beiläufig ein Stäubchen vom Ärmel.
    »Dieser … Ort … ist höllisch, aber nicht uninteressant. Stellen Sie sich vor, Sie stoßen auf eine Straßenschlägerei. Sie biegen um eine Ecke und finden zwei Fremde, die einander mit aller ihnen zu Gebote stehenden Bösartigkeit umbringen wollen. Das Ergebnis bedeutet Ihnen nichts, aber das Blutvergießen, das rohe, nackte Spektakel fesselt Sie; Sie können den Blick nicht davon abwenden. Geben Sie sich der Leere anheim, und sie wird die gleiche hypnotische Faszination auf Ihre Fantasie ausüben: Wie vollkommen und regelmäßig verkörpern menschliche Wesen eine ungeheure, entsetzliche Sinnlosigkeit! Es könnte fast als tragisch gelten, wäre es nicht so zutiefst erheiternd; all der Pomp, die Anstrengung, die bemühte, aufgeblasene Wichtigtuerei der Leute, wie sie uns Preise verleihen und umherstolzieren. Leistung. Arbeiten, streben, anbeten, lieben. Als käme es darauf an.
    Warum habe ich mich nicht umgebracht?« Jack lachte; es war ein hartes, brutales Krächzen. »Das ist eine gute Frage. Weil das Leben so grausam ist, daß es mich zum Lachen bringt, und das ist der einzige Grund, weshalb ich weiterlebe.«
    Doyle bemühte sich, jegliche Gemütsbewegung in seinem Tonfall zu unterdrücken; irgendein Appell an gemeinsame Gefühle war in diesem Augenblick kein Weg, ihn zu erreichen – wenn er überhaupt noch zu erreichen war. »Wie sind Sie an diesen … Ort … gekommen?«
    »Oh, ich nehme an, Sie wollen die Fakten hören, nicht wahr? Immer die Fakten für Sie – schön, warum sollen Sie sie nicht hören? Ich werde Ihnen keine Einzelheit ersparen.
    :
    Sie können sie benutzen wie Ziegelsteine und sich daraus ein Mäuerchen bauen, hinter dem Sie sich verstecken können, oder Sie können sie in einer von Ihren kleinen Geschichten verwerten. Die habe ich übrigens nicht gelesen; ich höre, Sie haben mich als eine Art Vorbild für Ihren lieben Detektiv benutzt.«
    »Das stimmt vermutlich, in gewisser Hinsicht.« Jetzt fühlte Doyle doch Ärger in sich aufsteigen.
    Jack beugte sich mit beinahe freundlichem Lächeln vor und senkte die Stimme. »Dann gebe ich Ihnen folgenden Rat, alter Freund: Verwenden Sie nichts von dem, was ich Ihnen erzähle, für Ihre Figuren. Es wird den Leuten nicht gefallen, auch nur ein Wort davon zu hören; es ist nicht sentimental genug. Keine herzerwärmenden, glücklichen Wendungen. Sie verstehen es ja, ihnen zu geben, was sie wollen: Lügen, vergoldet und eingerahmt wie in einem Spiegelkabinett. Hüten Sie sich, ihnen die Wahrheit zu sagen: Sie schlachten nur die Gans, die goldene Eier legt.«
    Wieder lachte Jack bitter. Doyle wurde innerlich kalt: So viel hatte er ertragen – und jetzt noch einen Angriff auf seine Würde. Warum sollte er sich noch ein weiteres Wort der Einschüchterung gefallen lassen? Welche verlorene Eigenschaft dieses Mannes machte ihn so sicher, daß er der Mühe wert war? Der Jack, den er so sehr bewundert hatte, war nirgends zu erkennen; der hier kam ihm vor wie ein Wildfremder – am ehesten noch so, wie Doyle dessen wahnsinnigen Bruder in Erinnerung hatte.

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