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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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das, daß es den Individuen freisteht, dem eigenen, privaten Glauben entsprechend zu handeln. Es gibt keine universale Moral, keine übernatürliche Autorität, die unser Verhalten regiert, und ungeachtet unserer Taten werden wir keine Vergeltung empfangen, die außerhalb des Physischen ihren Ursprung hat. Wir sind auf dieser Erde gestrandet wie Robinson Crusoe.
    Und wenn jemand den Mut hat, sein Bewußtsein vom Konformitätsdruck der Gesellschaft zu befreien und all den anerzogenen Unfug abzustreifen, dann bleibt ihm nur noch der freie Wille. Von diesem Augenblick an hat er die Macht, zu bestimmen, was gut ist und was böse. Das ist Reinheit. Eine höhere moralische Strenge, die nur noch sich selbst verantwortlich ist. Was ich jetzt brauchte, war eine Struktur, an der ich meine Philosophie ausüben konnte.«
    »Wie denn das?«
    Jack nickte. »Ich hatte mir einen Ruf erworben, war jemand, der Dinge erledigen konnte. Ich wurde gebeten, für einen Mann zu arbeiten, von dem ich in Belem gehört hatte; er war ein Gangster, ein Boß im Untergrund. Die perfekte Erprobung meiner Theorie; ich nahm den Job an und bekam Einlaß ins geheime Herz der Stadt. Binnen eines Monats überwachte ich die Schmuggelgeschäfte des Mannes; von jedem Schiff, das im Hafen anlegte, wurden Waren abgezweigt, und beim Militär wurden Waffen und Munition gestohlen. Das Geld floß in Strömen, aber ich führte ein einfaches Leben in einer Hütte am Strand. Drogen, Alkohol, jedes nur vorstellbare irdische Vergnügen stand zur Verfügung; das Verbrechen stimuliert diesen niederen Hunger in unserer Natur und unterdrückt den moralischen Impuls. Ausschweifungen. Exzesse. Fleisch. Ein Zyklus, der kriminelles Verhalten auf ewig fortgebiert. Ich schaute zu. Ich nahm nicht teil.
    Ich hielt mir ein Mädchen in meiner kleinen Hütte, ein außergewöhnlich schönes Mädchen, das ich eines Tages am Strand aufgelesen hatte. Ihr Name war Rina. Ein Halbblut, indianisch und portugiesisch. Sechzehn Jahre alt. Ihre Mutter war eine Hure; den Vater hatte sie nie gekannt, und sie. hatte nicht einen einzigen Tag in der Schule verbracht. Noch nie war ich jemandem wie ihr begegnet. Sie war süß und schlicht und stellte keine Fragen. Und sie hatte ein gespenstisches Talent, mich zum Lachen zu bringen. Rina faszinierte mich auf kuriose Art; daß ein menschliches Wesen so vorbehaltlos und mit solcher Zufriedenheit an die Erde gebunden sein konnte, fand ich abstoßend und fesselnd zugleich. Wie ihre körperliche Schönheit war auch ihre Unwissenheit von einer runden, verstockten Vollkommenheit, die mir auf obskure Weise lehrreich vorkam.
    Sechs Monate lang schlief ich jede Nacht mit ihr, und nach und nach unterhielt ich tatsächlich eine animalische Beziehung zu dem Mädchen; ich erkannte, daß ich nie im Leben jemandem so nah gewesen war, bestimmt keiner Frau. Eines Morgens, nicht allzulange nach dem Aufwachen, sah ich, wie das Licht in einer bestimmten Weise auf ihr Gesicht fiel, und ich beschloß, sie nie wiederzusehen. Jenes Gefühl von Intimität: klaustrophobisch, unerträglich. Ich raffte meine paar Habseligkeiten zusammen und ließ Rina schlafend in meinem Bett zurück. Am Abend dieses Tages tötete ich einen Mann, der mich in einer Gasse ausrauben wollte; ich brach ihm den Hals und ließ ihn liegen wie Unkraut. Und diese beiden Ereignisse – Rina zu verlassen und diesen Mann umzubringen – verbanden sich in meinem Kopf miteinander: Der freie Wille, sehen Sie. Ich hatte seit Jahren niemanden mehr umgebracht. Ich begann, sehr viel ans Morden zu denken. Wie leicht es war, wie oft ich es in der Vergangenheit getan hatte; wie wenig es mich gestört hatte. Es keimte die Idee, daß ich einen speziellen Mord begehen müßte, mit Absicht, an jemandem, den ich kannte, als Experiment. Um zu sehen, was ich empfinden würde.«
    Doyle atmete langsam und tief ein; hoffentlich würde Jack keine Veränderung in seinen Reaktionen bemerken. Er hatte sich bisher nur ein einziges Mal in Gegenwart einer so fiebrigen, fremdartigen Persönlichkeit befunden. Jack hatte sich auf ein Gelände treiben lassen, das seinen Bruder völlig aus der Bahn geworfen hatte. Hatten ihre genetischen Ähnlichkeiten sie zu der gleichen Wegkreuzung geführt? War dieses Böse von Anfang an unausweichlich in Jack vorhanden gewesen?
    »Ich beschloß, den Mann zu töten, der mich als seinen Untergebenen angestellt hatte: Diego Montes. Sie nannten ihn ›Ah Aranha‹: die Spinne. Montes war nach und nach von

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