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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Morgens erwachte ich mit dem Impuls, weiterzuziehen.
    Ich verwandelte mich in einen Seemann von der Isle of Man – die nötigen Dokumente fälschte ich – und heuerte auf einem Handelsdampfer an, der nach Portugal fuhr. Rastlosigkeit schlich sich in mein Blut; in Portugal ging ich auf einen Frachter nach Brasilien, und dort trieb ich mich an der Küste herum und arbeitete auf kleinen Schiffen, bis ich schließlich eine Welt gefunden hatte, in der ich mich verlieren konnte Vier Jahre in der Stadt Belem, nicht weit von der Mündung des Amazonas. Ein internationaler Hafen, Dutzende von Kulturen, die in unzähligen Intrigen aufeinanderprallen; Äquatorhitze, Diebereien, Böswilligkeit. Umgeben vom Dschungel, dessen Einfluß in den Blutstrom alles menschlichen Verhaltens sickerte, skrupellos, raubtierhaft, vampirisch. Wer hätte gedacht, daß man solche Unverfälschtheit in einer ausschließlich von Lügnern bevölkerten Stadt finden könnte? Keine Menschenseele dort zeigte sich auch nur im mindesten der Wahrheit verbunden. Ich fühlte mich sofort heimisch.
    Ich machte mich zu einem Iren, ein ziemlicher Exot in diesem Treibhaus; ich benutzte den Namen Doyle, eine Hommage an Sie. Mein erster Job: ein Dampfboot, das den Fluß auf und ab fuhr und eine Gummiplantage im Amazonasbecken belieferte, jenseits von Manaos, tief im Innern, nicht weit vom Rio Negro. Ein Eingeborenenstamm arbeitete dort in den Plantagen für die portugiesischen Bosse: die Enaguas, die ›Guten Menschen‹. Ein passender Name für dieses Volk. Ich hatte gedacht, ich hätte in Ravenna ein einfaches Leben geführt; die En-agua verkörperten die Einfachheit. Sie leben in Strohhütten, zehn Fuß hoch über dem Boden des Dschungels, um sich vor den Fluten zu schützen. Obwohl sie schon lange Kontakt mit den Weißen haben, sind sie nicht korrumpiert. Sie treiben fast keinen Handel; alles, was sie brauchen, nehmen sie aus dem Urwald.
    Ich verbrachte meine ganze freie Zeit mit den En-agua und schmeichelte mich nach und nach bei ihrem Häuptling ein. Sie besaßen Kenntnisse in lokaler Pharmakologie, an denen mir gelegen war; ihr breitgefächertes Wissen über Heilextrakte und die Eigenschaften der Kräuter verblüffte mich. Der Schamane oder Priester ihres Stammes verwandte bei seinen rituellen Zeremonien einen Trank, der aus einer Wurzel gebraut wurde, ayaheusco. Nachdem ich ihr Vertrauen gewonnen hatte, durfte ich schließlich an seiner solchen Zeremonie teilnehmen. Die Substanz des Trankes befreit den Geist von seinen natürlichen Verankerungen; wenn die Wirkung einsetzt, sagen sie, verläßt der Geist den Körper, und unter der Führung des Priesters gelangt man in das Bewußtsein eines Tieres – einer Boa, eines Jaguar, je nachdem, womit man in wahrer Verwandtschaft verbunden ist –, und das ist der Geistführer. Ich wurde zu einem Adler, Doyle; ich flog über den Urwald, fühlte den Flügelschlag an meinen Seiten, spähte mit dem gleichen scharfen Blick zu den Baumwipfeln hinunter, spürte seinen schneidenden Hunger. Ich lebte und bewegte mich im Körper dieses Vogels, und es war so fühlbar und lebhaft wie nur jedes physische Erlebnis meines Lebens.«
    Sparks’ Augen glühten fanatisch; jetzt, da Doyle ihn zum Reden gebracht hatte, schien er brennend darauf erpicht zu sein, diese Erfahrungen mitzuteilen. Wie viele Jahre waren vergangen, seit er darüber ein Wort zu jemandem gesprochen hatte? Wie viele Jahre, seit er in Gesellschaft eines Menschen gewesen war, dem er vertrauen konnte? Doyle empfand es wie einen Stich, als er erkannte, wie tief Jacks Isolation und Einsamkeit reichten, wie weit er sich von jeglichem Gemeinschaftsgefühl entfernt hatte. Konnte irgend jemand lange überleben, so allein und von allem abgeschnitten – Doyle wußte, er könnte es nicht –, selbst wenn er so unverwüstlich war wie Jack?
    »Dieses Erlebnis bestätigte die Entdeckung, der ich von meinem ersten Augenblick in der Dunkelheit jener Höhle an nachgespürt hatte: daß dieses Bewußtsein, das uns bewegt, sich in jedem Aspekt der Schöpfung wiederfindet, flüssig und formbar, und die Art und Weise, wie wir es erleben, ist übertragbar von jeder beliebigen Manifestation des Lebens auf eine andere. Können Sie die Implikationen begreifen? Wenn alles im Menschen und in der Natur aus demselben Stoff gemacht ist – nennen Sie ihn, wie Sie wollen: Heiliger Geist oder Lebensfunke –, und wenn jedes Molekül von demselben bestimmenden Geist durchdrungen ist, dann bedeutet

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