Im Zeichen der Sechs
verwenden muß, um ein solches Kind der Vorstellungskraft auf die Welt zu bringen: Architektur, soziale Organisation, Versorgungswege, lokale Verwaltung. Jahre vergingen wie der Blitz, und kaum einmal blieb ein Augenblick Zeit für Theologisches.
Und eines Tages dann blickte ich auf und sah, daß unsere kleine Stadt sich prächtig entwickelte. Fast tausend waren wir, und in Scharen strömten sie an unsere Seite, als ich die Westküste bereiste und von einem Wagen herunter predigte … und ich erkannte, wie gründlich ich es versäumt hatte, das schriftliche Fundament unserer Gemeinde zu entwickeln. Unser Geist war willig, aber das Fleisch war … unwissend.
So begab ich mich auf eine Wallfahrt. Nach Chicago, im letzten Jahr, um mich unter meine geistlichen Brüder zu mischen. Welch eine Versammlung des Wissens, welch eine Inspiration! Ich kann Ihnen wahrheitsgemäß sagen, Rabbi: Das Parlament der Weltreligionen hat mein Leben verändert. Mein Weg ward mir offenbart, und er war entmutigend: Ich mußte die prima materia aller Religionen der Welt studieren und ausjäten und sodann ihre jeweiligen Wahrheiten miteinander vereinen im Namen der einen wahren Vision, die ich zwar schon besaß, aber noch nicht zu artikulieren vermochte.
Und ich begann, die großen Heiligen Bücher der Welt zu sammeln und ihre Geheimnisse zu studieren. Eine der ersten Erkenntnisse aber, zu denen man gelangt, ist die, daß es keinen Zufall gibt. Und ich muß Ihnen sagen, Jacob Stern, Ihr Auftauchen hier in The New City in just diesem Augenblick erscheint mir als ein bemerkenswerter Zufall.«
»Wieso?«
Das unerbittliche Stampfen in Jacobs Kopf verschluckte beinahe alle anderen Geräusche, als Reverend Day mit seinem Sessel näher heranrückte. Der widerlich schwere Geruch von faulenden Blumen schwängerte die Luft.
»Weil ich glaube, daß Sie hergeschickt wurden, damit wir dieses große Heilige Werk zusammen vollenden. Darum sind Sie hier. Darum haben Sie meinen Traum von unserer Kirche mit mir geteilt.«
»Was macht Sie so sicher, daß auch ich diesen Traum gehabt habe?« fragte Jacob.
»Bitte, lassen Sie uns nicht unaufrichtig sein, Rabbi Stern; ich weiß manches über Sie, und ich habe keinen Zweifel, daß Sie weise genug sind, um sich denken zu können, ›warum‹ das so ist.«
Der Reverend wedelte lässig mit dem Arm. Jacob fühlte, wie es ihm heiß aus der Nase rann, und hob die Hand an sein Gesicht: Blut. Ihm schwindelte, er schaute auf und konnte dem Blick des Reverends um Haaresbreite ausweichen. Aber er sah das Rinnsal auf der Oberlippe des Mannes: Auch er blutete.
Jacob nickte wieder. Das ›Warum‹ war nicht wichtig. Die einzige wichtige Frage war das ›Wie‹: Wie konnte man ihn aufhalten?
»Sie werden einsehen, daß es mir angesichts meiner ganzen Verantwortung hier unmöglich war, einen dieser Leute als Kollegen zu betrachten.« Reverend Days Stimme schwoll erregt an, und er schien gar nicht zu merken, daß er blutete. »Ich wußte, daß Sie kommen würden; es wurde mir im Traum vorausgesagt.«
»Und was erwarten Sie von mir?«
»So lange ist es her, daß ich mit jemandem zusammengesessen habe, der qualifiziert genug war, um meine Entdeckungen zu würdigen. Ich weiß fast nicht, wo ich anfangen soll. Ich will Ihnen erzählen, was ich aus meinen Studien geschlossen habe, und dann sagen Sie mir, ob Sie mir beipflichten.« »Gut.«
Der Gestank von fauligen Blumen wurde stärker. Jacob atmete durch den Mund und blickte starr zu Boden, aber er spürte, daß die Augen des Reverends seine Verteidigungsanlagen Stück für Stück zerpflückten.
»In den hebräischen Schriften gibt es keine unmittelbare Erwähnung Gottes; viele andere Namen werden Ihm gegeben, aber Ain Sof, die Gottheit, der Quell aller Schöpfung, wird niemals direkt genannt, denn ihre Identität liegt jenseits alles menschlichen Fassungsvermögens. Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre.«
Jacob nickte zustimmend; die Kopfschmerzen wurden allmählich unerträglich. Er legte die Hände an die Schläfen und konzentrierte sich auf den Staub, der die Gebärden des Mannes um wirbelte.
»Die Abwesenheit Gottes ist Dunkelheit. Dunkelheit gilt als das Böse. Bevor das Licht in die Welt kam, bevor das Gute existierte – denn Gott ist gut –, gab es nur Dunkelheit. Wir wissen, daß Gott dem Menschen einen freien Willen gegeben hat, weil Er wollte, daß wir frei auf Erden leben. Aber wahrhaft frei zu sein bedeutet, dem zu trotzen, was traditionell als Wille
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