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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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balanciere er auf einer Spindel. Ein breites, rätselhaftes Lächeln. Die Augen offen, aber waagerecht geschlitzt …
    Man kann es nicht anders sagen, dachte Doyle, sie sieht aus wie ein Chinese.
    Ein goldenes, perlendes Lachen sprudelte aus Sophie Hills Mund.
    »Sieh nur all die freundlichen Gesichter hier«, sagte sie -es war eine Männerstimme, hochtönend und ganz anders als ihre eigene –, und tatsächlich, der Akzent klang nach Mandarin. Sie lachte wieder.
    Das Publikum kicherte, eine unwillkürliche Reaktion.
    »Alle glücklich auf einem Schiff; alle lassen ihre Sorgen daheim!« sagte sie und lachte wieder. Ihre Gutmütigkeit war nicht zu unterdrücken; sie erfüllte den Raum, und die Luft schien leichter und so kräftigend wie frisches Quellwasser.
    Ja, ich selbst fühle mich gleichfalls besser, dachte Doyle glucksend: Was ist das für ein Trick? Ansteckende Fröhlichkeit? Mir neu.
    »Niemand seekrank?« fragte sie.
    Kollektives Aufstöhnen und neuerliches Gelächter. Eine Frau in der mittleren Reihe hob die Hand.
    »Oh, wie unangenehm für Sie, Lady; setzen dort hinten hin, okay?« Ein paar Leute hielten sich die Seiten und krümmten sich vor Lachen. »Wie sein das Essen auf diesem Schiff? Ganz gut?«
    Ja, das Essen sei gut, antwortete das Publikum.
    »Lady, Sie verpassen etwas«, sagte sie zu der seekranken Frau. »Wir vermissen das Essen wirklich. Hier drüben nichts zu essen.«
    Wir fressen dir heute abend jedenfalls aus der Hand, dachte Doyle. Seancen förderten zumeist sture, düstere Geisterpersönlichkeiten zutage, die vermuten ließen, daß bei ihrem Hinscheiden Selbstmord eine Rolle gespielt hatte; dies war ohne Frage die fröhlichste Seele, die Doyle je von einem Medium manifestiert gesehen hatte. Kein Wunder, daß Sophie so beliebt beim Publikum war.
    »Mein Name ist Mr. Li«, sagte Sophie. »Aber nennen Sie mich ruhig … Mr. Li.«
    Sogar seine dümmsten Witze klangen noch komisch. Vielleicht war Mr. Li zu Lebzeiten Hofnarr gewesen.
    »Wir haben alle möglichen Leute hier drüben. Leute über Leute. Alle glücklich, alle fröhlich, wenn nicht gleich, dann wenn treffen Mr. Li. Und Sie auch. Mr. Li sagen: Das Leben soll glücklich machen. Warum so ernst? Ist nicht so schlimm. Sehen Sie sich an: Auf Schiff. Gutes Essen. Nicht seekrank. Nur eine Lady. Nicht so nah bei ihr sitzen!« Wieder lachte sie, und das Publikum lachte mit.
    Ein außerordentliches Talent zur Mimikry, dachte Doyle. Ich bin fest davon überzeugt, einen munteren alten Chinesen vor mir zu sehen, und nicht eine von diesen kernigen Engländerinnen mittleren Alters, die man sonntags nachmittags beim Spazierengehen im Hyde Park trifft. Aber vorläufig ist da nicht unbedingt etwas Übernatürliches am Werk.
    »Alle möglichen Leute hier heute abend. Jemand dort will sprechen mit jemandem hier drüben, Sie sagen Mr. Li.
    Wenn sind hier drüben, Mr. Li geht suchen, okay? Mr. Li wie, äh, Telefon-Vermittlung.«
    Ein durchaus übliches Verfahren, eine Vorstellung in Gang zu bringen. Jetzt wollen wir mal sehen, was ›Mr. Li‹ zu bieten hat, dachte Doyle und beobachtete jede ihrer Bewegungen.
    »Wenn Sie bitte die Hände heben könnten«, sagte Mrs. Saint-John. »Wir werden versuchen, jeden zu Wort kommen zu lassen, sofern die Zeit es erlaubt.«
    Die Leute im Publikum begannen Sophie Fragen zu stellen, Fragen nach verstorbenen Onkeln und Cousinen und Ehegatten, und sie gab ohne Umschweife detaillierte Antworten, die anscheinend mehr als zufriedenstellend waren. Obgleich Doyle sein ganzes beobachterisches Geschick aufwandte, konnte er keinen der üblichen Makel in ihrer Darbietung entdecken – möglicherweise die Bestätigung seiner Theorie, dachte er, daß es Medien irgendwie gelingt, die Gedanken des Fragestellers anzuzapfen und dort die gewünschten Informationen zu finden, eine Erklärung, die leichter zu schlucken war als ein Meer von körperlosen Geistern, die eine interdimensionale Telefonvermittlung umschwebten.
    Aber Doyle hatte immer noch eine Trumpfkarte auszuspielen. Er zog seinen Stift hervor und schrieb einen Namen auf eine Cocktailserviette.
    Jack Sparks.
    Als Mrs. Saint-John auf ihn zeigte, reichte er ihr die Serviette.
    »Dies ist der Verstorbene, mit dem Sie sprechen möchten?« fragte Mrs. Saint-John.
    Ja, antwortete Doyle. Das sei der Mann. Den gleichen Test hatte er mit jedem Medium durchgeführt, das er in den letzten zehn Jahren, seit Jack gestorben war, begutachtet hatte. Diesen Test hatten sie alle nicht

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