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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Augen.
    »Der Abschnitt offenbarte dem Rabbi Löw nichts Geringeres als die Formel, mit der man gewöhnlichem Lehm menschliches Leben einhaucht und die Jahwe bei der Erschaffung Adams, des ersten Menschen, verwandte.«
    »Das soll wohl ’n Witz sein«, sagte Pinkus.
    »Es ist … eine Legende, Pinkus«, sagte Doyle.
    »Wie soll er das denn getan haben?« fragte Innes.
    »Aus reinem Wasser und Lehm aus einer Grube in geweihtem Boden formte der Rabbi Glieder, Kopf und Körper einer riesigen Gestalt, die grobe Ähnlichkeit mit einem Menschen hatte. Unter Befolgung des vorgeschriebenen Rituals fugte er die einzelnen Teile dann zusammen, schrieb ein heiliges hebräisches Wort auf ein Stück Papier und legte es der Figur unter die Zunge –«
    »Welches Wort war das?« fragte Innes.
    »Danach müßtest du Lionels Vater fragen, fürchte ich«, sagte Doyle.
    »Und – ist der Golem lebendig geworden?« fragte Pinkus besorgt.
    »Ehe der Rabbi sich versah, richtete der Golem, wie er ihn nannte, sich auf und setzte sich in Bewegung. Als er ihn ansprach, tat der Golem genau, was er ihm befahl, und Rabbi Löw erkannte, daß er einen Diener geschaffen hatte, der seine Anweisungen buchstabengetreu ausführen würde. Er war acht Fuß groß und hatte starke Arme und Beine, kleine Steine anstelle der Augen und einen roh geformten Mund. Rabbi Löw benutzte den Golem als Hausdiener, bis er genug Vertrauen in seinen Gehorsam hatte; dann fing er an, ihn nachts hinauszuschicken, damit der Golem jeden, der ins Ghetto kam, um den Juden etwas anzutun, erschreckte und verjagte. Jeden Abend schob er ihm das Papier unter die Zunge und gab seinem Geschöpf Leben. Nach getaner Arbeit kehrte der Golem im Morgengrauen nach Hause zurück, der Rabbi nahm ihm das Papier aus dem Mund, und der Golem lag wie eine Statue im Keller des Rabbi. Tatsächlich hatten die Leute solche Angst vor dem entsetzlichen Wesen, das dort nachts durch die Straßen streifte, daß die Gewalttaten gegen die Juden im Ghetto ein Ende nahmen.«
    »Nicht übel, die Story«, meinte Pinkus und klammerte sich aus Leibeskräften an die Koje. »’n bißchen wie dieser Dingsda, dieser Frankenstein-Knabe.«
    »Man hat angemerkt, daß Mary Shelley einen großen Teil ihres berühmten Buches von der Golem-Legende hergeleitet habe«, sagte Doyle.
    »Ach was«, sagte Pinkus, der nicht den leisesten Schimmer hatte, wer Mary Shelley sein könnte.
    »Es kommt noch mehr«, sagte Doyle. »Eines Morgens am Sabbat, wenn die Juden ihren religiösen Pflichten nachgehen müssen und bis Sonnenuntergang keinerlei körperliche Arbeit verrichten dürfen, vergaß Rabbi Löw, dem Golem das Papier aus dem Mund zu nehmen.«
    »Oha«, sagte Pinkus. »Das riecht nach Trouble.«
    »Da dürften Sie recht haben, Mr. Pinkus. Rabbi Löw hatte den Golem nicht mehr in seiner Gewalt, und das Ungeheuer ging auf einen schrecklichen Verwüstungszug. Straße um Straße hinterließ es aufgebrochene und zertrümmerte Läden und Häuser, und viele unschuldige Menschen, hauptsächlich Juden diesmal, kamen ums Leben, zermalmt und zertrampelt in sinnloser Raserei. Nichts konnte den Golem aufhalten, bis Rabbi Löw ihn schließlich aufspürte und ihm das Papier aus dem Mund nahm. So bewahrte er den Rest des Ghettos vor dem sicheren Untergang.«
    Die andern hingen ihm stumm an den Lippen.
    »Der Mythos vom Golem ist mir immer wie eine vollkommene Metapher für die apokalyptische Macht ungezügelter menschlicher Wut erschienen, aber auch als wunderbare Parabel auf die lebensbejahende Einfühlsamkeit jüdischer Tradition«, sagte Doyle.
    Innes und Pinkus warfen einander einen Seitenblick zu wie verdutzte Schuljungen; beide hatten kein Wort begriffen.
    »Mannomann«, sagte Pinkus.
    »Und was wurde aus dem Golem?« fragte Innes. »Der Golem wurde von Löw und seinen Freunden in den Keller der Großen Synagoge von Prag getragen, und dort liegt er angeblich noch heute und wartet darauf, daß man ihm neues Leben eingibt.«
    Doyle hatte Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, als das Schiff eine besonders unangenehme Volte schlug. Er zog ein weiteres Blatt Papier hervor. »Gentlemen, ich habe hier die Abschrift der Frachtpapiere für die fünf Särge im Laderaum. Möchten Sie es riskieren, eine Vermutung hinsichtlich ihres Herkunftsortes zu äußern?« »Nicht Prag«, sagte Innes. »Doch«, sagte Doyle.
    »Sie wollen mich auf den Arm nehmen«, sagte Pinkus. »Ich bitte Sie, Mr. Doyle; Sie wollen doch nicht ernsthaft andeuten, daß der Golem

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