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Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
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Satz hüpfte über die Oberfläche seines Geistes wie ein flacher Stein übers Wasser, immer wieder und wieder:
    Wir haben einen leeren Bauch, und uns juckt’s, wo wir uns nicht kratzen können.
    Dante beobachtete sie mit fanatischer Konzentration; es gefiel ihm, wie sich ihre Lenden beim Gehen wiegten und wie ihre kräftige braune Hand den Griff des Koffers umfaßte. Er mochte ja halb blind sein, aber eine Indianerin erkannte er immer noch auf eine halbe Meile.
    Wann würden diese Frauen lernen, daß sie einfach nicht allein reisen sollten? Chicago war ein rauhes Pflaster; da konnte eine Lady jeden Augenblick Pech haben, dachte Dante, und sie führte das Schicksal in Versuchung, wenn sie hier nach Einbruch der Dunkelheit am Bahnhof herumspazierte. Und wenn sie den Ärger nicht geradezu herausfordert, wie sie sich so schamlos hier zur Schau stellt und versucht, sich als Weiße auszugeben. Unmoralisch, das war es.
    Was diese Squaw nötig hatte, war eine Lektion, und Dante Scruggs war der Mann dazu. Der Gedanke an die künftige Intimität zwischen ihnen ließ ihn schaudern; er würde jeden Zoll dieses braunen Körpers erkunden, bevor sie fertig wären. Dann würde er sie mit dem Green River bekannt machen.
    Aber zunächst wartete er auf ein Zeichen. Dort, das Pferd, das am Pfosten angebunden war. Sein Schwanz zuckte nach links, und dann noch einmal: zweimal hintereinander.
    Ja. Die Stimmen wollten diese da.
    Die Frau bog um eine Ecke, und er folgte ihr.
    Vor all dem Beton, Backstein und Gußeisen des neuen Chicago, das nach dem Brand von ’71 in die Höhe geschossen war, bot Dante Scruggs’ angeborene Hautfarbe ihm eine gute Tarnung. Er sah nicht gut aus, aber man hätte ihn auch nicht häßlich genannt. Von durchschnittlicher Große, blond und jungenhaft, mit rundlichen, sanften Gesichtszügen wie seine Mittelklasse-Familie, die daheim in Madison, Wisconsin, einen Laden hatte. Er war neunundreißig, sah aber zehn Jahre jünger aus, und es wäre unmöglich, ihn aus einer Menschenmenge herauszufinden. Er war nicht massig; seine bemerkenswerten Kräfte saßen vor allem in den übergroßen Bauernpranken: Mit denen konnte er Walnüsse knacken. Dante war gerissen genug, der Polizei stets einen und dem Gefängnis zwei Schritte voraus zu sein, und der Welt zeigte er ein sanftes, freundliches Gesicht. Sein Glasauge würde man nie bemerken, wenn man es nicht aus nächster Nähe eingehend betrachtete: Die Iris, blau wie ein Drossel-Ei, hatte keine Pupille.
    Dante war ein Menschenschlag, den die mechanisierte Welt erst seit kurzem hervorbrachte: der industriestädtische Einzelgänger. Er verspürte kein Bedürfnis nach Gesellschaft; seiner Vorstellung vom Ausgehen genügte ein Besuch im benachbarten Schlachthaus – auch wenn er in Situationen, die dies erforderten, die Rituale freundlichen Verhaltens makellos vollziehen konnte. Dieses Talent zur Simulation und seine bescheidene Erscheinung erlaubten ihm, durchs Leben zu gehen, ohne einen Schatten zu werfen. In ihm aber gab es nur Widerhaken, Finsternis und reißenden Schmerz. Die Stimmen, die er im Kopf hörte, lenkten jeden seiner Schritte; schon längst hatte er es aufgegeben, sich ihren Anordnungen zu widersetzen, und er glaubte mit der Demut eines Dieners, daß es schlicht seine Aufgabe sei, ihnen zu gehorchen, wenn er ihre Signale einmal verstanden hatte.
    Die Stadt war der Dschungel und er selbst ein Raubtier an der Spitze der Nahrungskette; das verlieh dem, was er als sein Lebenswerk betrachtete, eine gewisse Würde. Die U. S. Army hatte von seiner Lust an Disziplin soviel gehalten, daß sie ihn zum Platoon Sergeant befördert hatte. Fünfzehn Jahre hatte er gedient, bis das Massaker von Wounded Knee seinen Vorgesetzten deutlich gemacht hatte, mit welcher Begeisterung Dante diesen Aspekt seiner Natur zum Ausdruck brachte.
    Soldaten in seiner Einheit, die bei dem Gefecht in seiner Nähe gewesen waren, sagten aus, Dante habe alle menschlichen Hemmungen verloren, nachdem der Dakota-Pfeil ihm das Auge genommen hatte. Andererseits, gaben sie zu bedenken, wie konnte man erwarten, daß er mit so schwer beschädigtem Augenlicht noch Frauen und Kinder unterschied? Die Army hatte sich diesem Argument widerwillig gefügt und seine Exzesse in der allgemeinen Vertuschungsaktion begraben. Bald danach war er in aller Stille ehrenhaft und mit vollem Pensionsanspruch entlassen worden.
    Dante deutete sein Mißgeschick anders; die Verwundung hatte ihm eine ganz neue Welt eröffnet. Er

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