Im Zeichen der Sechs
Englisch, mein Freund?«
Der Mann sah ihm zum ersten Mal ins Gesicht; Denver Bob fühlte, wie ein Frösteln über seine Kopfhaut kribbelte. Nicht, daß eine offene Drohung im Blick der stumpfen schwarzen Augen gelegen hätte. Da war einfach … gar nichts. Weder Persönlichkeit noch Unterwürfigkeit noch falsche gute Laune. Kein Chinamann hatte je so geschaut oder sich so benommen.
»Ich suche Arbeit«, sagte der Mann. »Arbeit? Na, das Gefühl überkommt einen Mann von Zeit zu Zeit«, sagte Denver Bob unter Aufbietung seiner ganzen gutgeölten Freundlichkeit. »Da weiß er nicht, soll er scheißen oder die Uhr aufziehen. Das ist wie ein Fieber, verstehst du; am besten legt man sich hin, trinkt was und wartet, bis es vorbei ist.«
»Ich arbeite mit Sprengstoff«, sagte der Mann, Denvers feierliche Ode an die Faulheit ignorierend. »Ist das wahr?« »Sprengungen.«
»Ja, ich hab’s schon verstanden. Du bist also ein Arbeiter.« Was immer der Kerl sonst sein mochte, ein Tramp war er nicht. Wie ein Bahnarbeiter sah er auch nicht aus. Viel zu selbstsicher und unabhängig. Vielleicht ein Minenarbeiter, der seinen Claim verloren hatte. Egal – alles an dem Kerl machte Denver Bob Gänsehaut. Wenn er irgend etwas sagen oder tun konnte, was ihn dazu bringen würde, das Camp zu verlassen und weiterzuziehen, dann konnte das gar nicht schnell genug gehen. »Wo finde ich solche Arbeit?«
»Zufällig, Bruder, kann ich dir das genau sagen. Sie sind immer noch dabei, die Nebenstrecke zwischen Phoenix und Prescott zu verlegen, durch das Pea Vine. Wie ich höre, sind da reichlich Tunnel zu graben und Canyons zu überbrücken, genug, um eine Doppelschicht-Kolonne noch ein ganzes Jahr lang rund um die Uhr zu beschäftigen.« »Wo?«
»Nordnordwestlich. Du kannst da drüben bei der Schwenkbrücke auf den Nachtgüterzug nach Phoenix springen; der geht gegen Mitternacht, und morgen früh bist du da.«
»Die Santa Fe, Phoenix and Prescott Railroad.« »Das ist die Firma. Du findest ihre Büros gleich am Bahnhof in Phoenix. Die können dich sicher gut unterbringen – heutzutage ist Arbeit in den meisten Gegenden ziemlich knapp, aber ein Kerl mit ’nem brauchbaren Talent wie deinem wird immer gesucht. Auf dein Glück und auf das deiner Vorfahren.« Denver Bob hob die Blechdose mit seinem Schnaps, trank ihm zu und dachte: Du hast deinen Marschbefehl, mein Freund; jetzt schaff deinen gespenstischen Arsch von meinem Platz.
Der Mann zeigte keinerlei Dankbarkeit; er wandte seinen Blick wieder dem Feuer zu. Dann erweckte irgend etwas seine Aufmerksamkeit; er saß stocksteif da, wie ein Hühnerhund, der etwas wittert.
Bevor Denver Bob reagieren konnte, zerriß ein Chor von durchdringenden Pfeifen die Nacht ringsumher. Das konnte nur eins bedeuten – und gleich ging der Schrei durch das Hüttendorf. »Bullen!«
Seit dem Pullman-Eisenbahnerstreik im vergangenen Mai machten Bahnpolizisten und Pinkerton-Agenten Razzien in den Hobo-Camps, wüste Gewaltorgien, bei denen Schädel eingeschlagen wurden, die Hütten in Flammen aufgingen und die Tramps, die nicht im Gefängnis landeten, in alle Winde zerstreut wurden. Den Sommer hindurch hatten die Bullen sich über St. Louis an den Gleisstrecken entlang zu den Camps im Westen vorgearbeitet, und ihnen voraus eilten die Erzählungen der Überlebenden, die von so wahllosen und bösartigen Verstümmelungen an ihren Brüdern zu berichten hatten, daß einem dabei die Augen aus den Höhlen traten. Keine Freifahrten mehr, so lautete die neue Politik der Firmen. Anscheinend war den Eisenbahnbaronen daran gelegen, Gleise und Bahnhöfe sauberzuhalten, um die ausgesprochen sensiblen Mittelklasse-Fahrgäste nicht zu brüskieren, die jetzt westwärts zogen und von deren Reisekasse, wie das Konsortium entschieden hatte, das künftige Geschick der Eisenbahn abhing.
Fünfzig Tramps sonnten sich im stumpfen Glanz des Alkoholnebels, als die Bullen hinter einer Reihe Güterwaggons hervorstürmten und über sie herfielen, bevor auch nur ein einziger auf die Beine kommen konnte. Zwanzig Schläger, die sich heranschlichen wie Diebe aus dem Hinterhalt, mit Schlagstöcken und abgesägten Baseballschlägern in den Fäusten, und sie machten nicht viel Federlesen – die meisten dieser Landstreicher hatten im Laufe ihres Lebens schon ein- oder zweimal deftige Prügel bezogen, aber das hier war ein völlig neues Spiel. Diese Burschen meinten es ernst.
Zwei Cops mit Fackeln setzten die kleinen Papphütten in Brand. Die
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